Editorial

Ganzheitlich

Mit dem Aschermittwoch hat die vorösterliche Fastenzeit begonnen. Das Pflichtfasten hat zweifellos seine Bedeutung verloren, denn Fastengebote wurden in der Geschichte immer wieder umgangen und riefen wachsenden Widerstand hervor. Auf der anderen Seite wird jedoch der Grundidee eines sinnvollen Fastens eindeutig wieder mehr Beachtung geschenkt. Doch regelmässig wird der Fehler begangen, das Fasten entweder als eine rein geistige Angelegenheit zu sehen oder es andererseits rein körperlich zu definieren. Der Benediktiner­pater Anselm Grün schreibt in seinem kleinen Büchlein zum Fasten über diese Einseitigkeit: «Man hat Leib und Seele voneinander getrennt. Das Fasten wurde zu einer rein geistigen Haltung. Man betonte den Geist des Fastens und verstand darunter die innere Freiheit gegenüber den Dingen dieser Welt, geistige Umkehr und Erneuerung. Man schaut fast verächtlich auf das rein körperliche Fasten herab und merkte dabei gar nicht, dass mit dem körperlichen Fasten auch der Geist des Fastens verschwand, ja dass die Spiritualisierung des Fastens zu einer neuen Materialisierung geführt hat.» 

Fasten weckt Sehnsucht nach einem veränderten Leben. Indem wir uns selber ein wenig aus dem gesellschaftlichen Schussfeld nehmen und durch die Einschränkung unseres Lebensstils auch Solidarität mit den Minderbemittelten und Hungernden erfahren können, profitiert auch unser Körper durch Entschlackung und geringere Belastung. Fasten fasziniert und erschreckt zugleich; es zieht an und stösst ab; es scheint vernünftig und ist doch schwer zu verstehen. Fasten ist also eine ganzheitliche Angelegenheit. Auf keinen Fall eine sture einsei­tige Rosskur. Das Fasten kann Krankheiten heilen und es beugt Krankheiten vor, indem es ihnen gleichsam biologisch den Boden entzieht. Eine sinnvoll gestaltete Fastenperiode verleitet buchstäblich dazu, Ess-, aber auch andere Lebensgewohnheiten zu überprüfen, gegebenenfalls zu ändern und so gesünder und erfüllter zu leben. Und weil Leib und Seele eine Einheit bilden und also auch der Seele guttut, was dem Leib wohl bekommt, sind auch die seelisch-geistigen und spirituellen Wirkungen des Fastens nicht zu übersehen. Wer einmal die intensive Erfahrung des Fastens gemacht hat, der wird immer wieder seinen alltäglichen Lebensrhythmus durch eine Fastenzeit unterbrechen und daraus neue Kraft schöpfen.  

 

Mit freundlichen Grüssen 

Reto Stampfli