Schwerpunkt

Glaubenszeugen: Notker Wolf

Eine mystische Kirche der Zukunft

von Gerald Mayer, domradio.de

Er war Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie, Erzabt von St. Ottilien und Abtprimas der Benediktiner. Nun ist Notker Wolf verstorben. In einem seiner letzten Interviews sprach er über ein nötiges Comeback der Mystik. 

Gerald Mayer: Dunkle Wälder, alte Gemäuer, Nebel, Kerzenschein. Das ist, was viele mit ­Mystik verbinden. Gehört Mystik mittlerweile nicht ins Museum?
Notker Wolf: Im Gegenteil. Die Mystik ist wieder sehr publik geworden mit dem Interesse vieler Menschen an fernöstlichen Religionen. Sie sagen dann: «Bei uns gibt es ja keine Spiritualität mehr. Aber im Fernen Osten, im Buddhismus, Hinduismus – auch im Islam, bei den Sufis: Da gibt es noch Mystik. Hier in der europäischen und deutschen Kirche dreht sich doch alles um Strukturveränderungen.»

Der Theologe Karl Rahner hat meines Erachtens zu Recht gesagt: «Der Gläubige von morgen wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein.» Schliesslich geht es um die Gottes­erfahrung. Um die Erfahrung, dass Gott in mein Leben eingreift. Das ist weit mehr als Theologie. Wir müssen uns der Liebe Gottes öffnen, er selber wird dann in uns wirken. Das Entscheidende ist, dass ich mich selbst zurücknehme. Gottes Nähe zu erleben, seine Liebe zu erfahren: Das ist Mystik. Die Herausforderung ist dann, mit Gegenliebe zu antworten. 

Mayer: Wann haben Sie das erste Mal in Ihrem Leben eine mystische Erfahrung gemacht?
Wolf: Ich habe es damals nicht als Mystik bezeichnet, aber die erste Erfahrung meiner Lebensberufung – das war mystisch. Es hat sich ganz alltäglich abgespielt: Ich habe über das Leben eines Missionars gelesen, und auf einmal hatte ich das Gefühl: Das ist es. Das musst du machen. Das macht Sinn in deinem Leben. Damit wirst du froh.

Obwohl ich früher eine Familie haben wollte und mir vorstellen konnte, als Lehrer zu arbeiten, ging es plötzlich um etwas ganz anderes: um die Hingabe an Jesus Christus. Der persönliche Erfolg und die Anerkennung, das war unwichtig geworden. Spontan war mir klar, dass das mein Weg ist. Das ist eine Möglichkeit der mystischen Erfahrung.

Andere erleben das in einer Kathedrale. Der Schriftsteller Paul Claudel erlebte seine Berufung beim Magnificat der Weihnachtsvesper in Notre Dame de Paris im Jahr 1886. Als der Knabenchor das Magnificat sang, hat er seine erste Gotteserfahrung gemacht. So ein Erlebnis kann man nicht in Worte fassen. Man muss es spüren.

Mayer: Gibt es Faktoren, die ein mystisches Erlebnis begünstigen können?
Wolf: Im Wesentlichen muss ich lernen, mich zurückzunehmen. Ich muss mich auf die Suche nach Gott machen. Die zwei Elemente verbinden die Mystik aller Religionen mitei­nander. Das Entscheidende ist, Gott an sich heranzulassen. Er hat eine unendliche, barmherzige Liebe für uns. Das ist eine Tatsache, die in Jesus Christus offenbart ist. Je mehr ich diese Liebe Gottes für mich im Neuen Testament betrachte und je mehr ich sie in meinem Leben betrachte, desto näher kommt mir Gott und desto näher komme ich Ihm.

Im Mittelalter – beim grossen Mystiker Meister Eckhart – war es das Ziel, mit Gott eins zu werden. Im Johannesevangelium gibt es diesen wunderbaren Satz: «Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten; mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen.» (Joh 14,23) Dass Gott bei uns Wohnung nimmt, das ist das Entscheidende in der Mystik. Das erfüllt einen Menschen, und er wird versuchen, bei Gott zu bleiben. 

Mayer: Sie haben die aktuellen Struktur­debatten in der Kirche angesprochen. Ganze Bistümer strukturieren ihre Pfarreienlandschaft um, beim Synodalen Weg werden fundamentale Fragen diskutiert. Wäre da mehr Mystik nötig?
Wolf: Natürlich muss die Kirche sich gut organisieren. Dazu gehören dann auch Fragen nach Struktur und Organisation. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass das nicht der Kern unserer Aufgabe hier auf Erden ist. Jeder und jede Einzelne von uns – und auch die Kirche als Ganze – hat doch den Auftrag, Menschen auf dem Weg hin zu Gott zu unterstützen. Wir müssen uns ganz darauf ausrichten, die Liebe Gottes für jeden Menschen zu vermitteln. Wenn wir das erfahrbar machen, unser Leben und auch unsere Strukturen danach ausrichten, dann haben wir – ganz im Sinne von Rahner – eine Zukunft als mystische Kirche.

Mayer: Viele Menschen suchen ihre Spiritualität ja vor allem im Yoga, Feng Shui, Ayurveda ... Beneiden Sie andere Religionsgemeinschaften um das Interesse an deren Mystik?
Wolf: Ich glaube, dass sich die meisten Menschen nur sehr oberflächlich mit der Spiritualität und Mystik dieser Angebote befassen. Da geht es mehr um Marketing. Aber natürlich empfinde ich ein bisschen Wehmut, wenn ich sehe, mit welcher Ehrfurcht die Muslime im Iran etwa an den Werk- und Festtagen in den grossen Moscheen knien und beten. Da denke ich mir schon: Das ist beneidenswert. Da muss ein grosser Gott dahinter stehen. Hier in Deutschland finde ich eine solche Hingabe selten. Wie hat Jesus gesagt: «Wahrlich, eine solchen Glauben habe ich bei meinem Volk nicht gefunden.»

Aber das zu sehen, ist ganz wunderbar! Denn beim interreligiösen Dialog geht es doch darum, vom anderen zu lernen. Alle Religionen versuchen doch, den Menschen zu Gott zu führen. Egal, wie sie ihren Gott dann auch bezeichnen mögen. Nur durch dieses gemeinsame Ziel und das aufrichtige Interesse aneinander kann es zu einem Austausch von Gaben kommen. 

Mayer: Das heisst, wir Christen können in Sachen Mystik noch einiges von anderen Religionen lernen?
Wolf: Aber selbstverständlich. Ein Buddhist, dem wir begegnen, will nicht, dass ich ein Pseudo-Buddhist werde. Er will einen Christen an mir erfahren und fragt mich: Wie hältst du es mit deinem Glauben? Was bedeutet für dich Jesus Christus? Da habe ich auch gemerkt: Es gibt in anderen Religionen eine grosse Achtung für Jesus Christus. Die Muslime schätzen ihn als Propheten. Mahatma Gandhi hat ihn bewundert. Er kam nur nicht mit den Dogmen zurecht, sonst wäre er wohl ein Christ geworden. Aber das ist die Freiheit des Menschen. In der Mystik muss man auch erkennen: Gott hat viele Wege, sich dem Menschen zu nähern.

Einen der schönsten Ausdrücke habe ich bei meinem letzten Besuch im Iran gehört. Wir haben damals den Apostolischen Nuntius besucht, und er sagte uns: «Einen schönen Gruss vom Heiligen Vater: Merkt euch, Gott ist nicht katholisch.» Das ist eine Herausforderung. Gott steht über den Religionen. Aus verschiedenen Richtungen versuchen alle Religionen, sich ihm anzunähern. Die Taliban oder den Islamischen Staat meine ich damit nicht. Dahinter steckt keine Mystik. Da wird Religion ausgenützt zur Machtausübung. Aber wenn wir anderen begegnen als religiöse Menschen, dann sieht es einfach anders aus. Dann werden wir Freunde, und dann kann ich nicht mehr auf den anderen einschlagen.  

Das Interview führte Gerald Mayer. Dieses Interview wurde zuerst in der Zeitschrift Ordenskorrespondenz Heft 1/2023 veröffentlicht.

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Simon Pi / wiki commons cc4.0

Als Sohn eines Schneiders kam Werner Wolf im Kriegsjahr 1940 in Bad Grönenbach im Allgäu zur Welt. Sein Erweckungserlebnis hatte er auf dem Dachboden, das schreibt Heidemarie Winter in ihrer Biografie über Notker Wolf. Auf dem Speicher fand der Oberrealschüler ein Missionsheft. Die Berichte weckten seine Sehnsucht nach Freiheit. Notker Wolf war ein Freund klarer Worte, wollte den Reformprozess der katholischen Kirche in Deutschland gerne als dauerhafte Institution etablieren. Und er fand, dass Kirche und Rockmusik «durchaus zusammenpassen». Am 2. April ist der langjährige Abtprimas der Benediktiner im Alter von 83 Jahren gestorben.