Statt «gemeinsamer Wurzel» kursieren in Kirchenwelt noch antijüdische Stereotype

Passagen aus dem Matthäus- und dem Johannesevangelium haben eine antijüdische Wirkungsgeschichte, die bis heute anhält. Dennoch ist es falsch, die Evangelien selbst als antijüdisch zu bezeichnen, wie dies heute vielfach geschieht. Nach neutestamentlicher Mehrheitsmeinung waren alle Evangelien bis vielleicht auf Lukas von jüdischen Autoren für ein jüdisches Publikum geschrieben. Die harten Worte sind Zeugnisse eines innerjüdischen Streits.

Mit der grossen Zunahme der Heidenchristinnen und -christen und der Zerstreuung der judenchristlichen Gemeinden nach dem Bar Kochba-Aufstand  im Jahr 135 n. Chr.  ging dieser ursprünglich jüdische Kontext vergessen. Die Stellen konnten jetzt gegen «Die Juden» gelesen  werden. Und das werden sie leider vielfach bis heute.

Neue Sichtweise auf Bund mit Gott

In katholischen Kreisen herrscht oft die Auffassung, dass mit der Erklärung «Nostra Aetate» aus dem Jahr 1965 sich zumindest der katholische Antijudaismus erledigt habe. Tatsächlich hat das Zweite Vatikanum in der genannten Konstitution einen grundlegenden Wandel im Verhältnis zum Judentum eingeleitet: Die Substitutionstheologie, wonach der Neue Bund den Alten ersetzt habe, wurde verabschiedet zugunsten der Lehre, der Alte Bund sei von Gott nie gekündigt worden. Juden und Christen stehen gleichberechtigt in ihrem je eigenen Bund mit Gott.

Aufsehenerregende Gesten wie der Besuch Johannes Pauls II. in der Synagoge von Rom im Jahr 1986 unterstrichen diese Wende. Die Meinung, damit sei das Thema ad acta gelegt, ist jedoch falsch – Erfahrungen im katholischen Milieu bestätigen das.

Lange antijüdische Geschichte

So hantierte ein bekannter katholischer Schweizer Intellektueller vor Jahren in einer Polemik mit dem Begriffspaar «schaffendes/raffendes Kapital». Das schaffende Kapital wird durch die «guten» Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen und lokal verankert sind, repräsentiert. Das raffende Kapital wird mit Wucher und Schmarotzertum assoziiert. Damit ist das Finanzkapital gemeint, hinter dem in antisemitischer Optik die Juden stecken. In der erwähnten Polemik waren keine Juden involviert, und doch wurde ein Begriffspaar mit klar antisemitischer Geschichte verwendet.

Es handelt sich hier nicht um spezifisch christlichen Antijudaismus, aber Christinnen und Christen stehen in einer langen antijüdischen Geschichte, die im modernen Antisemitismus fortgeschrieben wird. Ja, es gibt Forscher wie Olaf Blaschke, die diese begriffliche Differenzierung ablehnen und nur noch von Antisemitismus reden. Wie man sich auch in dieser Frage positioniert, keine Forscherin und kein Forscher leugnet heute die Kontinuität zwischen dem traditionellen christlichen Antijudaismus und dem modernen Antisemitismus.

Antijüdische Stereotype bei Progressiven und Konservativen

Antijüdische Stereotype sind keine Frage von progressiv oder konservativ: der zitierte katholische Intellektuelle zählt sich selbst zur progressiven Seite. Auf der anderen Seite sieht es nicht besser aus. Am 24. März 2024 publizierte das konservative Portal swiss-cath.ch einen Artikel, der die «Modernisten» in der katholischen Kirche als moderne Pharisäer bezeichnete: «Pharisäer und Modernisten glauben beide, eine Erlösung nicht nötig zu haben; die einen, weil sie überzeugt sind, sämtliche 613 Ge- und Verbote der Tora jederzeit halten zu können, die andern, weil ihrer Ansicht gemäss es keine (end-)gültigen Ge- und Verbote gibt. Letztlich behaupten also beide, alles im Leben richtig zu machen, ‹Gerechte› und nicht ‹Sünder› zu sein.»

Über Jahrhunderte wurden «Pharisäer» als Synonym für Selbstgerechte und Heuchler gebraucht. So auch hier. Im Neuen Testament sind sie in erster Linie bevorzugte Diskussionspartner Jesu. Man muss nicht so weit gehen wie manche, die Jesus selbst zu den Pharisäern zählen. Aber die Polemik ist Zeichen der Nähe. Abgesehen davon spielen im damaligen wie im heutigen Judentum Konzepte wie Erlösung oder Sünde keine Rolle. Das sind durch und durch christliche Begriffe. Die «Modernisten» sollen kritisiert werden, dafür bedient man sich antijüdischer Stereotype.

Johannes Paul II. sprach von «gemeinsamer Wurzel»

Während des erwähnten Besuchs in der Synagoge von Rom sagte Johannes Paul II., dass die jüdische Religion für Christinnen und Christen nicht etwas Äusserliches sei, sondern zum Inneren des Christentums gehöre. In Anlehnung an den Römerbrief sprach er von der «gemeinsamen Wurzel» des Christentums und des Judentums. Dies sind Grundeinsichten des katholisch-jüdischen Dialogs, von denen leider viel zu wenig die Rede ist. (kath.ch)