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Schwerpunkt
Christen im Libanon
von Reto Stampfli
Der Libanon wurde einst als «Schweiz des Nahen Ostens» gepriesen. Seit Jahren kommt das kleine Land jedoch nicht mehr aus den Negativschlagzeilen heraus. Mitten im Kampfgeschehen zwischen Israel und der Hisbollah ringen die christlichen Gemeinden um ihre Existenz. Ein Einblick in eine lange und komplexe Geschichte.
Die christlichen Gemeinschaften im Libanon befinden sich in einer schwierigen Lage, da sie nicht direkt in den aktuellen Konflikt involviert sind, jedoch zwischen den Fronten leben. Obwohl die Kampfhandlungen das ganze Land betreffen, sind die Grenzgebiete zwischen Israel und dem Libanon besonders gefährdet. Tausende von Christen mussten ihre Häuser verlassen, was häufig zur Trennung der Familien führte. Mütter und Kinder finden Zuflucht in kirchlichen Einrichtungen oder bei Verwandten, während die Väter zurückbleiben, um ihre
Häuser und Wohnungen vor Plünderungen zu schützen.
Ein religiöses Panoptikum
Die Religion spielt im Libanon eine zentrale Rolle und prägt viele Aspekte der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation des Landes. Der Libanon, flächenmässig ein Viertel der Schweiz, ist bekannt für seine religiöse Vielfalt, in der Christen, Muslime, Drusen und andere religiöse Gruppen zusammenleben. Sie ermöglicht eine gewisse Machtbalance zwischen den verschiedenen Gruppen, trägt aber gleichzeitig zu politischer Instabilität, sozialen Spannungen und wirtschaftlichen Problemen bei. Die starke Betonung der religiösen Identität erschwert den Aufbau einer gemeinsamen nationalen Identität. Viele Libanesen identifizieren sich primär über ihre Religion und nicht über eine nationale Zugehörigkeit. Der blutige Bürgerkrieg (1975–1990) war stark von religiösen Spannungen geprägt, und obwohl der Krieg beendet ist, sind viele der Konfliktlinien, die auf religiöser Zugehörigkeit basieren, noch immer vorhanden. Das politische System baut auf einem konfessionellen Proporzsystem auf, bei dem wichtige Ämter nach Religionszugehörigkeit aufgeteilt werden. Der Präsident des Libanon ist immer ein Maronit, der Premierminister ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Auch im Parlament und in der Verwaltung werden Sitze proportional nach den religiösen Gemeinschaften verteilt.
Im Zeichen der Apostel
Die christlichen Lehren gelangten sehr früh in den Libanon, bereits im 1. Jahrhundert, während der Zeit des römischen Reiches. Der Libanon gehörte damals zur römischen Provinz Syrien, und das Christentum breitete sich in dieser Region durch die Aktivitäten der frühen Apostel und Missionare aus. In der Apostelgeschichte des Neuen Testaments wird erwähnt, dass Paulus und seine Anhänger das Gebiet bereisten, das heute zum Libanon gehört, insbesondere die antiken Städte Tyrus und Sidon an der Mittelmeerküste. Diese Städte waren wichtige Handelszentren in Phönizien und hatten enge Verbindungen zu anderen Städten des Mittelmeers, was die Verbreitung des Christentums begünstigte. Die byzantinische Herrschaft trug dazu bei, dass sich das Christentum in der Region stabilisieren konnte, insbesondere durch den Bau von Kirchen und die Organisation der christlichen Gemeinschaften. Bis heute herrscht eine kaum überblickbare konfessionelle Vielfalt im Libanon mit seinen etwas mehr als fünf Millionen Einwohnern. So folgen zum Beispiel die Gläubigen der Griechisch- katholischen Kirche (Melkiten) dem byzantinischen Ritus und teilen viele Traditionen mit den orthodoxen Kirchen, sind jedoch mit Rom in Gemeinschaft. Ebenfalls mit Rom verbunden sind die Armenisch-katholische Kirche, die Syrisch-katholische Kirche und die Chaldäisch-katholische Kirche. Die Griechisch-orthodoxe Kirche (Rum-orthodoxe Kirche) ist eine der ältesten christlichen Kirchen im Libanon und nach den Maroniten die zweitgrösste christliche Gemeinschaft. Die Gläubigen feiern den byzantinischen Ritus und haben historische Verbindungen zur orthodoxen Kirche von Konstantinopel. Die Armenisch-apostolische Kirche befolgt den armenischen Ritus. Die Kirche ist unabhängig von der römisch-katholischen und byzantinischen Orthodoxie. Weiter gibt es auch kleinere protestantische Gemeinschaften.
Die Maroniten
Im 5. Jahrhundert entstand eine christliche Bewegung, die später als die Maroniten bekannt wurde. Die Maroniten gehen auf den heiligen Maron, einen syrischen Mönch, und seine Anhänger zurück, die sich vor allem in den Bergen des nördlichen Libanon niederliessen. Die Maroniten entwickelten eine eigene christliche Tradition und liturgische Praxis, die stark von der östlichen Kirche beeinflusst wurde, aber in Gemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche stand. Bis heute sind die Maroniten die grösste christliche Gruppe im Libanon und spielen eine zentrale Rolle. Mit der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert wurde der Libanon Teil des islamischen Kalifats. Obwohl der Islam zur vorherrschenden Religion wurde, blieben viele christliche Gemeinschaften im Libanon bestehen. Die Maroniten zogen sich grösstenteils in die schwer zugänglichen Berge zurück, wo sie eine relative Autonomie bewahrten. Während der Kreuzzüge (11. bis 13. Jahrhundert) erlebte der Libanon eine Zeit der intensiven Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen. Die Kreuzritter errichteten im Libanon Burgen und Festungen, aber auch nach dem Ende der Kreuzzüge blieben die Christen des Libanon, insbesondere die Maroniten, eng mit dem Papsttum verbunden. Das Gebiet der heutigen Republik Libanon gehörte bis 1918 zum Osmanischen Reich, von 1920 bis zur Unabhängigkeitserklärung 1943 war es ein französisches Protektorat.
Die Drusen
Unter der muslimischen Bevölkerung gibt es tiefe Rivalitäten zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen, insbesondere zwischen Sunniten und Schiiten. Eine weitere Gruppe sind die Drusen. Ihre Religion, entstanden im 11. Jahrhundert in Ägypten, ist eine Abspaltung des schiitischen Islams und enthält Einflüsse aus verschiedenen Glaubensrichtungen wie dem Islam, dem Christentum, dem Judentum, dem Hinduismus, dem Neuplatonismus und der Gnosis. Sie haben keine Moscheen oder Kirchen im traditionellen Sinne, und ihre Religion wird stark von mystischen und esoterischen Überzeugungen geprägt. Ein zentraler Aspekt ihres Glaubens ist die Idee der Reinkarnation. Drusen glauben, dass die Seele nach dem Tod wiedergeboren wird und dies unendlich oft geschieht. Die Drusen spielen im Libanon eine wichtige politische Rolle. Auch in Israel gelten die Drusen als eine eigenständige religiöse und ethnische Gemeinschaft.
Externe Mächte
Die religiösen Zugehörigkeiten im Libanon führen zu einer starken Einmischung externer Mächte. Der Iran unterstützt die schiitische Hisbollah, während Saudi-Arabien und westliche Länder wie die USA sunnitische Gruppen und christliche Parteien zur Seite stehen. Dies führt dazu, dass der Libanon, wie es die aktuelle Situation zeigt, immer wieder zum Schauplatz geopolitischer Auseinandersetzungen wird. «Wir wollen diesen Krieg nicht», betont Ghassan Hasbani, ehemaliger Minister und Parlamentsabgeordneter. Libanons Christen seien die letzte Bastion von Freiheit und Demokratie im Nahen Osten. «Der Westen muss das verstehen, bevor es zu spät ist.» Deshalb brauche es unbedingt mehr Unterstützung – und mehr Druck auf Iran. Aber das ist schwer, denn die meisten westlichen Staaten haben die Geduld mit Libanon und seinen korrupten Politikern längst verloren. Die Herausforderung für den Libanon besteht darin, Wege zu finden, wie das konfessionelle System reformiert werden kann, um eine stabilere und gerechtere Gesellschaft zu schaffen, ohne die Rechte der religiösen Minderheiten zu gefährden.