Im Zweifelsfall

Ich habe ein Herz für schräge Vögel, für unangepasste Menschen, für kleine Leute. Für jene, die ihr Leben ohne persönlichen Anlageberater bewältigen, die Wichtigeres zu tun haben, als an ihrem gesellschaftlichen Renommée zu arbeiten, die aus wenig etwas zu machen verstehen und den Umständen immer neu Gutes abringen. Für Lina, die lange obdachlos war und regelmässig Gast im Treffpunkt ist, in dem ich mitarbeite. Beim letzten Mal hat sie mir erklärt, dass Wasser ein Gedächtnis hat. Und als ihr Tischnachbar beim Znacht über alles geschimpft hat, hat sie ihm dargelegt, warum man beim Essen nur Gutes reden sollte.

Auch in der Bibel zieht es mich zu denen hin, die sich ihre innere Freiheit bewahrt haben wie Rizpa. Zu jenen, die in kein Schema passen wie die Totenbeschwörerin von En-Dor oder nicht einfach nachsagen, was andere ihnen vorsagen, wie Thomas. Wie er, der überall nur «der Ungläubige» geheissen wird, wo er doch einfach bloss das Unfassbare nicht hat fassen können: dass einer, der tot war, nicht im Tod geblieben ist. Und wie er, dessen «Unglaube» sprichwörtlich geworden ist, wo er sich doch bloss danach gesehnt hat, selber zu sehen und die ganz neue Nähe des Rabbi selber zu erfahren.

Als er ihm nach seinem Tod erscheint, nachdem Thomas den anderen nicht geglaubt hat, dass sie Jesus gesehen haben, da fordert ihn dieser auf: «Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite!»

Es beeindruckt mich, wie Jesus den Jünger und seine Zweifel ganz ernst nimmt und ihn seine ganz eigene Erfahrung machen lässt. Und es stimmt mich nachdenklich, dass es nicht die Jünger sind, jene, die fraglos glauben, die auch wirklich begreifen, sondern dieser Skeptiker, der schliesslich nur noch stammeln kann: «Mein Herr und mein Gott!»

Jacqueline Keune, 55, ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.