Lieber frei denn fromm

Gedanken zum Feiertag, 20. Mai 2018, Pfingsten, (Johannesevangelium, 20,19-23)

 

Es ist Sonntagabend, der Tag nach dem Sabbat, Jeschua tot und begraben. Die Jüngerinnen und Jünger – allesamt verunsichert und verängstigt – haben sich eingesperrt. Was werden sie mit uns machen, denken sie. Und: Was soll nun werden? – Das alte Leben wieder aufnehmen? Zurück in die Boote, zurück an die Pflüge? Aber wie sollte das gehen, wo sich das Leben mit ihm in sie eingebrannt hatte? Und so eng sie auch zusammenrücken: die Lücke klafft.

Und dann steht auf einmal der Rabbi mitten im Raum, mitten in der Leere, wünscht ihnen Frieden, zeigt ihnen seine Wunden, sagt ihnen: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch, und haucht sie an mit seiner Geistkraft. Und die Jünger und Jüngerinnen reissen die Fenster auf, fühlen die Luft, die in ihre Erstickung strömt und ihre Angst lindert, beginnen wieder zu atmen und beginnen zu verstehen: Der, der nicht mehr da ist, ist nun in ihnen da. Was ihn erfüllt hatte, erfüllte nun sie. Was ihn bewegt hatte, bewegte nun sie. Hinaus. Auf die Gassen. In die Städte. Zu den Menschen. Und sie beginnen zu verstehen: Seine Geistkraft – kein schwebendes Gefühl, kein überirdischer Rausch, kein körperloses Etwas, sondern gesandte Menschen, getrocknete Tränen, getanes Recht, gewagtes Wort, gewirkter Wandel.

Die mutlose Kirche, die sich in sich selber zurückzieht, das ist die vorpfingstliche Kirche. Sie teilt den Einzelnen die Hostien aus. Sie betet für die Rettung der armen Seelen. Sie sieht Gott im Tabernakel. An bestimmten Tagen setzt sie das Allerheiligste aus und klammert sich an das Kirchenrecht. Die vorpfingstliche Kirche richtet sich auf Dauer ein und setzt Grenzen, damit sie fromm bleibt.

Die Kirche, die Sehnsucht hat und ihre Türen und Fenster weit aufmacht, damit es so richtig Durchzug gibt, das ist die nachpfingstliche Kirche. Sie teilt das Brot und wird so Gemeinschaft. Sie organisiert Gassenküchen für die beseelten Armen. Sie schaut Gott im Flüchtlingskind. Tag für Tag holt sie das Allerheiligste – den Menschen – herein und hält an der Hoffnung fest. Die nachpfingstliche Kirche macht sich auf und bewohnt die Unsicherheit, damit sie frei bleibt – frei wie die Kinder Gottes.

 

Jacqueline Keune ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.