Unkraut macht uns menschlich!

Gedanken zum Sonntag, 23. Juli, 16. Sonntag im Jahreskreis

Weish 12,13.16-19; Röm 8,26-27; Mt 13,24-43.

 

Schritt für Schritt geht es über die steile Alpwiese dem Stanserhorn entgegen. Nicht nur die Kulisse der Berneroberländer Berge begleitet mich, sondern auch eine Vielfalt von Blumen und Gräsern, die mich staunen lässt. Vieles von dem, was ich hier bewundere, ist unten im Talboden schlicht und einfach Unkraut. Und Unkraut – so sagt es ja bereits der Begriff – ist nicht gut und sollte nicht sein. Unkraut stört den Nutzen der „guten“ Pflanzen. Darum muss es bekämpft werden.

Doch der Blick in das Zusammenleben von Pflanzen zeigt auch anderes: Die Vielfalt, sogenannte Mischkulturen, stärken die Kraft von Pflanzen, wehren Schädlinge im Boden und bei den Pflanzen ab. So leisten Unkräuter einen wesentlichen Beitrag zum Wohl aller Pflanzen.

Wir wissen, dass eine Vielfalt von Pflanzen, die im Übergang vom Weizenfeld zur Wiese oder zum Waldrand wachsen, einen Lebensraum nicht nur für Pflanzen, sondern auch für andere Lebewesen bieten. Und schliesslich ist es nicht selten so, dass ein Kraut, das der Bauer als Unkraut am liebsten verschwinden lässt, für andere ein Heilmittel sein kann. Dann wird uns klar, dass es gar nicht so einfach ist, Unkraut von "gutem Kraut" zu unterscheiden. 

Eines aber ist allen Unkräutern gemeinsam: Wir Menschen bestimmen darüber – und wir tun das, weil wir eine bestimmte Vorstellung davon haben, was gut und was schlecht ist. Was unserem Ideal entspricht, bezeichnen wir als gut, was in Widerspruch dazu steht, ist Unkraut!

Jesus mahnt im Gleichnis vom Unkraut zur Nachsicht und Geduld. Dies meint, dass unsere Ideale ohne Bezug zu ihrer umgebenden Realität gar nicht gesund wachsen können, auch wenn das für uns vielleicht störend wirkt. Wer den "wahren" Katholiken definieren will oder genau weiss, was "richtige" Integration ist, läuft nämlich Gefahr, sich zum Richter oder zur Richterin über Gut und Böse zu machen und damit Gott spielen zu wollen.

Könnte es darum nicht sein, dass auch unser Ideal erst wirklich reifen kann, wenn es von Mischkultur und auch Unkräutern umgeben ist? Denn die Welt ist komplex und was wir als falsch anschauen, ist vielleicht von Nutzen zum Wohl von uns und von allen Menschen.

 

Thomas Wallimann-Sasaki ist Theologe und Sozialethiker. Er ist Präsident a.i. der Nationalkommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz.