Netflix-Serie «Vatican-Girl»: Wieviel Mitschuld trägt der Papst?

Es gibt nur wenige mysteriöse Vorfälle in der italienischen Geschichte, welche das Land so sehr fesseln wie das Verschwinden der 15-jährigen Emanuela Orlandi. Die Tochter eines Kurien-Angestellten war am 22. Juni 1983 nicht vom Musikunterricht heimgekehrt.

Emanuela Orlandi lebte mit ihrer Familie innerhalb des Vatikans in einer Wohnung, die Papst Johannes Paul II. als Arbeitgeber ihres Vaters bezahlte. Verschiedene Mitglieder der Orlandi-Familie dienten unter insgesamt sieben Päpsten.

Heute sind im Vatikan nur noch der ältere Bruder Pietro und die 92-jährige Mutter zu Hause. Beide sehen ihre Lebensaufgabe darin, die Wahrheit über die Schwester und Tochter herauszufinden.

Alle Wege führen in den Vatikan

Die Liste der Hauptverdächtigen rund um den Orlandi-Fall umfasste damals den KGB, die italienische und die russische Mafia sowie türkische Terroristen. Die Netflix-Doku-Serie über den Fall verfolgt aber eine andere Spur und diese führt über die genannten Umwege ins Innerste des Vatikans.

Die erste filmische Adaption befasst sich intensiv und ausführlich mit diesem fast vierzig Jahre alten Fall. Dazu wurden auch die Geliebten von Gangstern befragt und internationale terroristische Verschwörungen analysiert, um herauszufinden, ob Orlandi noch am Leben ist. Und wenn nicht, wer sie getötet hat und warum.

Neue Zeugen, neue Spuren?

Der britische Regisseur Mark Lewis enthüllt eine Reihe neuer Puzzleteile. Er stellt auch eine neue Zeugin vor, eine frühere Freundin der Teenagerin. Diese behauptet, dass ein Kardinal die Vatikan-Bürgerin Orlandi sexuell missbraucht hatte und dass die Kirche dieses Geheimnis vertuschen wollte.

Einige Tage nach diesem Geständnis an die Freundin verschwand Orlandi. Jahrelang habe die Freundin Angst vor den Konsequenzen dieses Geständnisses gehabt, weshalb sie es erst jetzt – im Zuge der neuerlichen Recherchen durch Lewis – öffentlich mache.

Geheimnisvolle, leere Gassen

Die Serie birgt einerseits seltene Aufnahmen des Stadtstaats Vatikan und seinen Winkeln abseits des Petersplatzes. Auf der anderen Seite ist «Vatican Girl: The Disappearance of Emanuela Orlandi» ein Dokumentarfilm der alten Schule. Er enthält körniges, noch nie gesehenes Filmmaterial aus dem Orlandi-Familienarchiv sowie nachgestellte Szenen und Interviewpassagen.

Ein Grossteil der Aufnahmen entstand während der Corona-Pandemie, als sowohl der Vatikan wie auch Rom wegen Ausgangssperren wie leergefegt waren. Dadurch konnte Lewis ungestört filmen. Und die leeren Gassen begünstigen zudem die unheimliche Atmosphäre der Serie.

Ein Teppich aus Verschwörungsfäden

Was diese Doku-Serie auszeichnet, ist die Art und Weise, wie Lewis die weit hergeholten Verschwörungsfäden des Falles zu einem Teppich verwebt. Auch das Attentat auf Johannes Paul II. durch den türkischen Terroristen Mehmet Ali Agca im Mai 1981 bezieht er ein.

Eine Theorie besagt nämlich, dass Orlandi vom sowjetischen Geheimdienst KGB entführt worden sei, um Agca erst aus der italienischen Haft freizupressen und nachher zu beseitigen. Laut Agca war der KGB auch der Auftraggeber des Attentats auf den Papst.

Die Mafia, der Vatikan und das Geld

Lewis interviewt auch eine Reihe von Charakteren, die verdeutlichen sollen, wie die Geheimhaltung, die den Vatikan seit Jahrhunderten umgibt, Korruption begünstigte. In die vier Episoden sind deshalb einige Morde und Mafiafälle eingeflochten.

Darunter der Tod von Roberto Calvi, dem «Bankier Gottes». Dieser wurde 1982 erhängt unter einer Londoner Brücke gefunden. Er soll an geheimen Finanztransaktionen des Vatikans beteiligt gewesen sein und gute Verbindungen zur römischen und sizilianischen Mafia gehabt haben.

Der kriminelle Erzbischof

Eine mögliche Verbindung besteht auch zu Erzbischof Paul Marcinkus. Die Ex-Geliebte eines Mafiabosses behauptet in der Serie, dieser habe Orlandi entführen lassen. Marcinkus hatte als damaliger Chef der Vatikanbank zusammen mit Calvi Scheinbanken gegründet und lateinamerikanisches Drogengeld gewaschen.

Als der Schwindel aufflog, gab es viele Gläubiger – darunter nicht wenige kriminelle –, die ihr Geld zurückforderten. Aber war Marcinkus wirklich so verzweifelt, dass er versuchte, den Vatikan mit einer Teenagerin zu erpressen?

Wusste der Papst von der Entführung?

Dass alle Wege in diesem mysteriösen Entführungsfall in den Vatikan führen und dass es dabei darum ging, ein vatikanisches Geheimnis zu vertuschen, davon ist Lewis hingegen überzeugt. Und nicht nur er – auch der italienische Journalist Andrea Purgatori glaubt an diese These.

Er vermutet, dass Papst Johannes Paul II. bereits zwölf Tage nach dem Verschwinden des Mädchens schon wusste, dass es sich hierbei um eine Entführung handle. Dies aufgrund einer Rede, die dieser damals hielt. «Zu einer Zeit, als die Polizei noch davon ausging, Emanuela Orlandi sei bloss weggelaufen», erklärt Purgatori in einer Szene.

Mögliche Geldwäsche im Vatikan

An einer weiteren Stelle bringt Purgatori dies nochmals auf den Punkt: «Alle Verbrechen im Zusammenhang mit den Verschwörungen um Orlandi wurden von denselben Leuten – der Mafia – mit demselben Ziel – dem Vatikan – und derselben Botschaft begangen: Gebt uns unser Geld zurück.» Die Anschuldigung ist höchst brisant: Hat die Mafia tatsächlich vom Vatikan Geld zurückgefordert, das dieser zuvor für sie gewaschen und unterschlagen hat?

Die Serie bringt auch die oft erwähnte Theorie eines anderen Mädchens ins Spiel, das kurz vor Orlandi entführt wurde. Mirella Gregori wurde zuletzt am 7. Mai 1983 in Rom gesehen. Nach Angaben der Mutter hat Gregori vor ihrem Verschwinden mehrmals Raoul Bonarelli besucht, den Vizeinspekteur des Gendarmeriekorps der Vatikanstadt.

Tot oder im Kloster

Ausgerechnet Papstattentäter Mehmed Ali Agca behauptete, das Verschwinden der beiden Teenagerinnen hänge zusammen. Vatikansprecher Federico Lombardi bestätigte jedoch Agcas Angaben nicht. Keines der beiden Mädchen wurde je gefunden, weder tot noch lebendig.

Interessant ist zudem die Erwähnung eines vatikanischen Geheimdossiers zu dem Fall. In diesem sollen angeblich die Ausgaben für Orlandis Aufenthalt in einem Londoner Kloster über 14 Jahre lang aufgeschlüsselt sein.

Gänswein bestreitet Dossier Orlandi

Auch der jüngst verstorbene emeritierte Papst Benedikt XVI. und dessen Privatsekretär Georg Gänswein sollen über dieses Dossier Bescheid gewusst haben. Gänswein stritt aber erst kürzlich die Existenz einer solchen Akte vehement ab.

Im Juli 2019 erfuhr der rätselhafte Kriminalfall eine weitere Wendung. Ein anonymer Hinweis legte nahe, dass Emanuela Orlandi auf dem Campo Santo Teutonico im Vatikan begraben sei. Infolgedessen liess der Vatikan dort zwei Gräber öffnen.

Vatikan nimmt Ermittlungen auf

Doch gefunden wird dabei nichts. Trotzdem deutet der Vatikan mit der Öffnung der Gräber an, dass er nach Jahrzehnten eine interne Beteiligung nicht mehr als blosse Spekulation und Verleumdung in Betracht zieht. Das ist neu.

Die Serie hat nun bewirkt, dass der Vatikan erstmals offizielle Ermittlungen im Fall Emanuela Orlandi aufnimmt. Der vatikanische Hauptstrafverfolger Alessandro Diddi will nun alle Beweise und Dokumente von damals einer neuerlichen Prüfung unterziehen. Ob jemals ans Licht kommen wird, was mit dem Mädchen aus dem Vatikan tatsächlich geschah, bleibt weiterhin fraglich. Pietro Orlandi ist jedoch überzeugt: «Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiss, ist, dass der Vatikan die Wahrheit kennt.» (kath.ch)

Die Miniserie «Vatican Girl: The Disappearance of Emanuela Orlandi» (Mark Lewis, Vereinigtes Königreich/Italien 2022) ist auf Netflix zu sehen.