Schwerpunkt

Gelassenheit

Einige zentrale Lehrsätze der Stoa fürs Leben sind: 

  • Lebe im Einklang mit der Natur.
  • Du kannst nicht alle Ereignisse ­beeinflussen, sehr wohl aber deine Reaktionen darauf.
  • Kenne deine Prinzipien und handle immer danach.
  • Lass dich nicht durch Dinge aus der Bahn werfen, die nicht in deiner Macht stehen.
  • Beuge dich nicht dem Gerede der Massen. Spiele dich nicht in den ­Vordergrund.
  • Sei dir deines Todes bewusst – und mach dir dieses Bewusstsein im Leben zunutze. 
Epiktet: Handbüchlein der Moral. Reclam Verlag 2014 oder Diogenes Verlag 2022. 
Massimo Pigliucci: Die Weisheit der Stoiker. Ein philosophischer Leitfaden für stürmische Zeiten. Piper Verlag 2019.

Projekt Gemütsruhe

von Reto Stampfli

Gelassenheit ist das Hauptziel der philosophischen Schule der Stoa. Der gelassene Mensch baut auf einem Urvertrauen auf, das ihm ermöglicht, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Auch das frühe Christentum liess sich durch diese Lehren beeinflussen. 

Der Stoizismus, der seine Wurzeln im 3. Jahrhundert vor Christus hat, ist auch heutzutage immer noch eine angesagte Philosophie. Eine Geisteshaltung aus der Antike, die in unserer hektischen Zeit eine brauchbare Anleitung liefert, wie man mit «stoischer Ruhe» mit den Herausforderungen und Wechselfällen des Lebens umgehen kann. Eine philosophische Schule, die schon früh auch das Interesse christlicher Philosophen und Theologen geweckt hat. Der in Rom aufgewachsene Biologe und Philosoph Massimo Pigliucci (*1964) bemerkt in seinem 2017 erschienenen Buch «Die Weisheit der Stoiker» dazu: «Im Stoizismus habe ich eine rationale, wissenschaftsfreundliche Philosophie gefunden, die zugleich eine Metaphysik mit spiritueller Dimension einschliesst. Eine Philosophie also, die offen für Korrekturen ist und, am allerwichtigsten, einen ausgeprägten Praxisbezug hat.»

EIN SKLAVE ALS VORBILD
Der in New York lehrende Universitätsprofessor Pigliucci stellt in seinen Betrachtungen den durch sein Werk «Handbüchlein der Moral» bekannt gewordenen Stoiker Epiktet (um 55–135) in den Mittelpunkt. Der freigelassene Sklave Epiktet gehört mit Seneca und dem römischen Kaiser Marc ­Aurel zu den wichtigsten Vertretern der späten römischen Stoa. Er hat selber nichts aufgeschrieben, wir kennen ihn durch die Aufzeichnungen seines Schülers Arrian. Philosophieren ist für Epiktet nie bloss Theorie, sondern eine praktische, gelebte Tätigkeit. Philosophie ist für ihn die einzig wahre Lebensform, wie auch der Begriff der Freiheit. Die berühmte stoische Gelassenheit, diese innere Freiheit, ist zweifellos ein Idealzustand, der zwar erstrebenswert, aber unerreichbar zu sein scheint. Epiktet ist überzeugt: Über alles, was von uns ausgeht, unser Handeln, Begehren und Meiden, gebieten wir selbst und können dieses beeinflussen. Über alles, was nicht von uns ausgeht, worauf wir keinen Einfluss haben, gebieten wir nicht. Darunter zählen unter anderem Besitz, Prestige, Macht, aber auch der menschliche Körper. 

PHILOSOPHIE UND CHRISTENTUM
Man muss nicht so weit gehen wie der evangelische Theologe und Philosoph Paul Tillich (1886–1965), der in seiner Schrift «Der Mut zum Sein» den Stoizismus als «die einzige wirkliche Alternative zum Christentum» im abendländischen Kontext bezeichnet hat, um den Einfluss antiker Philosophie und insbesondere des stoischen Denkens auf das Christentum angemessen zu bewerten. Es ist aber klar ersichtlich: Die Stoa, insbesondere Epiktet, hat christliche Denkerinnen und Denker schon früh inspiriert. In der aktuellen Forschung hat man andererseits Abstand davon genommen, umgekehrt eine Beeinflussung Epiktets durch das Neue Testament nachzuweisen. Bereits bei Paulus begegnen uns jedoch einige Begriffe und Vorstellungen, die an die Stoa erinnern, wie zum Beispiel der Physis-Begriff, der Gewissens- und der Freiheitsbegriff sowie die Vorstellung vom Naturrecht. In der Apostelgeschichte, Kapitel 17, diskutiert der lukanische Paulus sogar in Athen auf dem Felsen des Areopag mit epikureischen und stoischen Denkern, wobei deutlich wird, dass die stoischen Philosophen Paulus näher stehen als die epikureischen. Interessant ist auch der erdichtete Briefwechsel zwischen dem Apostel Paulus und dem römischen Philosophen Seneca, der die Anknüpfungspunkte zwischen Christentum und Stoizismus klar herauszustellen versucht.  

DIFFERENZEN
Nebst Berührungspunkten im christlichen und stoischen Denken sind auch Differenzen auszumachen, die wohl ihren deutlichsten Ausdruck in der Unvereinbarkeit von stoischer Sympathielehre und christlicher Nächstenliebe finden. Die eigene emotionale Betroffenheit, die dem Christen nicht nur dem Mitchristen, sondern auch und gerade dem fremden «Nächsten» gegenüber in der Nachfolge Jesu aufgetragen ist, widerstrebt dem auf kühle Affektfreiheit zielenden Stoiker. Auch beim Gottesbild gibt es wesentliche Unterschiede: Epiktet spricht natürlich nicht vom christlichen Gott. «Gott» ist in dem uneingeschränkten Sinne, in welchem Epiktet es meint, der Schöpfer der Welt, wie sie für uns erfahrbar ist. Für Epiktet ist es gleichbedeutend, ob man sagt: «der Natur gemäss leben oder dem Willen Gottes gehorchen». Hingegen klingen stoische pantheistische Formulierungen im Kolosserbrief (Kol 1,16) und im Römerbrief (Röm 11,36) an, sie sind aber vom biblischen Schöpfungsglauben her interpretiert. Zweifellos wurde die christliche Ethik von der stoischen Ethik und Affektenlehre beeinflusst: Die Natur (Physis) gilt als ethische Norm. Den Affekten und ihrer Therapie widmet man sich mit viel Elan, die Apathie (Teilnahmslosigkeit, ­Distanz zum Weltlichen) wird bei den Wüstenvätern und -müttern zum Ideal und wandelt sich später zu einem Markenzeichen des Mönchtums.  

HANDBÜCHLEIN DER MORAL
Epiktets «Handbüchlein der Moral» (Encheiridion), eine Zusammenfassung der stoischen Ethik, zeigte im Mittelalter und in der Neuzeit Wirkung: Als Basis fungierte das leicht christlich überarbeitete Handbüchlein als Ratgeber für eine christliche Lebensführung und war in jeder Kloster­bibliothek zu finden. Weiter wirkte stoisches Gedankengut lange Zeit über das von Boetius in der Gefangenschaft verfasste Abschiedswerk «Trost der Philosophie», das im Mittelalter mehrfach übersetzt und kommentiert wurde, nach. Im sogenannten «Gelassenheitsgebet», das in seiner modernsten Form von Reinhold Niebuhr, einem amerikanischen Theologen, überliefert ist, wird christliches und stoisches Denken lyrisch zusammengeführt: «Gott gebe mir die gelassene Gemütsruhe, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und immer die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.» 

Stoizismus und Christentum sind also auf keinen Fall deckungsgleich. Es ist jedoch erstaunlich, wie viele Berührungs- und Anknüpfungspunkte sich bei diesen beiden nachhaltigen Lebenslehren bieten. Für mich ist jeder Blick in das «Handbüchlein» eine anregende Erfahrung und als Gedankenspiel ist es reizvoll sich vorzustellen, in welcher Form sich Epiktet zu den Grund­zügen der christlichen Theologie äussern würde.