Schwerpunkt

Geschwister in der Bibel

Konkurrenz und Ergänzung

von Stephan Kaisser

Meist kennen wir von den Geschwistern in der Bibel nur die Konflikte, wie die Erzählung von Kain und Abel oder Jakob und Esau. Woher rühren diese Streitigkeiten? Gibt es die «lieben Schwestern und Brüder» auch in der Bibel? Was können wir von den biblischen Geschwistern lernen? ­Diesen ­Fragen wird im folgenden Artikel nachgegangen. 

Oft beginne ich einen Gottesdienst oder ­eine Predigt mit den Worten: «Liebe Schwestern und Brüder». Denn wir haben alle den gleichen Vater im Himmel und kennen ­vielleicht auch das biblische Ideal der Geschwisterliebe, wie es im Psalm 133 besungen wird: «Siehe, wie gut und wie schön ist es, wenn Brüder miteinander in Eintracht wohnen …».

GESCHWISTER VON DER WIEGE BIS INS ALTER
Wir wissen aus eigener Erfahrung: die Beziehung zu unseren Geschwistern ist eine der intensivsten und längsten, sie prägen unsere Kindheit und Jugend, bevor wir selbst Partner und Kinder haben. Oft sind Geschwister noch Teil unseres Lebens, wenn die Eltern schon gestorben sind und werden dann noch wichtiger. So sind die Geschwister wichtige Bezugspersonen von der Kindheit bis ins Alter. 

Allerdings sieht es mit der Harmonie unter den Geschwistern oft nicht so grossartig aus. Sie sind Konkurrenten, eventuell auch um die Liebe der Eltern. Das findet manchmal beim Erben seinen materiellen Ausdruck; Streitigkeiten können da leicht entstehen.

Das weiss auch die Bibel. Wenn ich Menschen frage, welche Geschwister in der Bibel ihnen in den Sinn kommen, dann erhalte ich meist als erste Antwort «Kain und Abel» und dann eventuell noch «Jakob und Esau». Beides Brüderpaare, die zerstritten waren. Gerne schaue ich diese Konflikte genauer an. 

KAIN UND ABEL
Kain, der Ackerbauer, bringt Gott ein Opfer dar. Ebenso sein Bruder Abel, der Hirte. Gott sieht nur auf Abel und sein Opfer. Das macht Kain so zornig, dass er seinen Bruder erschlägt (vgl. Genesis 4,3-8). Was steckt hinter diesem Brudermord?

Kain ist der Erstgeborene, der Erbe und damit der Besitzende. Gott aber schaut auf den Zweitgeborenen, auf den, der in der Gesellschaftsordnung unten steht. Kain hat mit seinem Opfer alles richtig gemacht. Es wird auch nicht erzählt, dass er von Gott zurückgewiesen wird. Gott schaut einfach auf den Schwächeren. Das ist eine Aussage, die die ganze Bibel durchzieht: Gott schaut auf die Schwachen beziehungsweise zu den Schwachen.

Des Weiteren steckt die Aussage darin, dass wir es Gott darin gleichtun sollen. «Da sprach Gott zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiss es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?»

Kain hat die Beziehung zu seinem Bruder zerstört. Er hat damit auch den Bezug zu Gott verloren, so wird er nun «rastlos und ruhelos auf der Erde sein» (4,14). Die Erzählung macht deutlich: Wir Menschen sollten wissen, wo unser Mitmensch – unser Bruder, unsere Schwester – ist, wie es ihm ergeht. Wir sollten gut an ihnen handeln, damit wir frei und doch gehalten im Leben stehen können. Wir sollten füreinander einstehen, gerade die Stärkeren und Besitzenden für die Schwächeren und Besitzlosen, das wäre Handeln im Namen Gottes. Die Beziehung zum Mitmenschen ist entscheidend für die Beziehung zu Gott und umgekehrt.

ESAU UND JAKOB, LEA UND RAHEL
Der Konflikt zwischen den beiden Brüdern Jakob und Esau geht über die Frauen Jakobs, die Schwestern Lea und Rahel, weiter bis zu den Söhnen Jakobs. Auch hier ist es so, dass jeweils die jüngeren der Geschwister von Gott besonders erwählt sind. Schon im Mutterleib kämpfen Jakob und Esau. Die besorgte Mutter Rebekka erfährt von Gott, dass zwei Völker in ihrem Leib sind und der Ältere dem Jüngeren dienen wird. Jakob, der Jüngere, wird zum Liebling der Mutter; Esau, der Ältere, zum Liebling Isaaks, des Vaters. Rebekka verhilft Jakob durch eine List zum Erstgeburtssegen (Genesis 27). Der alte blinde Isaak merkt nicht, dass Jakob sich als Esau ausgibt. Doch Jakob muss jetzt vor seinem älteren Bruder fliehen. Bei seinem Onkel Laban in Haran dient er sieben Jahre, um dessen jüngere Tochter Rahel heiraten zu können (Genesis 29,16–20). Doch in der Hochzeitsnacht wird nun Jakob selbst Opfer einer Täuschung. Laban gibt ihm die ältere Tochter Lea zur Frau. Sowie die Mutter beim Segen die beiden Söhne vertauscht hat, vertauscht nun der Vater, der Bruder Rebekkas, in der Hochzeitsnacht seine beiden Töchter. Jakob dient weitere sieben Jahre, um auch Rahel, die er eigentlich liebt, heiraten zu können. Die beiden jüngsten Söhne, die Rahel dem Jakob als zwölftes und dreizehntes Kind gebiert, sind dann auch die Lieblingssöhne Jakobs, erst Josef und später Benjamin. Die Bevorzugung des Josef führt zu weiteren Konflikten unter den Brüdern und Josef wird von seinen Brüdern sogar in die Sklaverei verkauft. (Josefsgeschichte in Genesis 37 – 47). Die zwölf Söhne von Jakob mit seinen beiden Frauen und deren Mägden gelten als die Urväter der zwölf Stämme Israels. (Nach der einen Tochter Dina ist allerdings kein Stamm benannt.) Wichtig ist zu erwähnen, dass sich Jakob und Esau am Ende der Erzählung versöhnen (Genesis 33), genauso wie es eine Versöhnung zwischen Josef und seinen Brüdern gibt. (Genesis 45)

GESCHWISTER, DIE SICH ERGÄNZEN
Es gibt aber auch Geschwister in der Bibel, die sich von Anfang an ergänzen und stützen, so zum Beispiel Mose, Aaron und Mirjam. Mirjam bringt ihren kleinen Bruder, der von der ägyptischen Prinzessin im Binsenkörbchen auf dem Nil gefunden wurde, zur Mutter zurück, damit er die ersten Lebensjahre bei ihr verbringen kann. (Exodus 2,5-9). Aaron ist für Mose, der nicht gut reden kann, der Sprecher, als dieser zum Pharao geht (Exodus 4,14). Und später sind alle drei beim Auszug aus Ägypten als Führungspersönlichkeiten wichtig.

Ein anderes Geschwistertrio findet sich im Neuen Testament: Maria, Martha und Lazarus. Sie gehören zu den engen Freunden Jesu. Maria ist diejenige, die sich bei einem Besuch Jesus zu Füssen setzt und seinen Worten lauscht. Marta aber macht den Haushalt und beschwert sich bei Jesus, dass ihre Schwester nicht mithilft. Jesus antwortet ihr: «Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.» (Lukas 10,41f) So steht Maria für den kontemplativen und Marta für den aktiven Lebensstil. An ihrem Bruder Lazarus vollbringt Jesus nach Johannes 11 das Erweckungswunder.

Ohne genauer darauf einzugehen, seien noch die Apostelbrüderpaare Simon und Andreas sowie Jakobus und Johannes erwähnt. Sie scheinen sich in der Nachfolge Jesu gegenseitig bestärkt und gut ergänzt zu haben.

So gibt es also unter Geschwistern Unterstützung und Nähe, aber auch Neid und Distanz. So wie in unserem Leben. Den Schlüssel, wie der Neid und die Eifersucht zu überwinden sind, bietet Jesus in einem Gleichnis an, in dem es auch um ein Brüderpaar geht (Lukas 15). 

DAS GLEICHNIS VOM BARMHERZIGEN VATER
Hier will der jüngere Sohn sein Erbe ausbezahlt haben und verschleudert es durch einen verschwenderischen Lebensstil sehr schnell. Jetzt lernt er Armut, Hunger und Verlassenheit kennen und kehrt reumütig zu seinem Vater zurück und will für ihn als Tagelöhner arbeiten. Der Vater aber geht ihm entgegen, verzeiht ihm, schenkt ihm neue Kleider und Schmuck und lässt ein grosses Fest feiern, aus Freude, dass sein geliebter Sohn wieder da ist. Der ältere Sohn, der dem Vater treu und gehorsam seit Jahren dient, aber wird zornig und will nicht mitfeiern. Er ist eifersüchtig und spricht gar nicht mehr von seinem Bruder sondern nennt ihn: «... der hier, dein Sohn.» Der barmherzige Vater antwortete ihm: «Mein Kind, du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber man muss doch ein Fest feiern und sich freuen; denn dieser, dein Bruder, war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.» (Lukas 15,31f)

Dies ist also der Schlüssel: Liebe ist immer ein Geschenk und kein Verdienst. Gott – er ist mit dem barmherzigen Vater gemeint –schenkt seine Liebe allen, ganz unverdient, darum braucht es keine Missgunst zu geben. Es geht einzig und allein um die Offenheit für die Liebe, Gott und den Mitmenschen gegenüber!

So danke ich Ihnen, meine lieben Schwestern und Brüder, für Ihr Interesse an diesem Artikel und hoffe, er ist für Sie ein Impuls, die Beziehung zum Vater/zur Mutter im Himmel und seinen Menschenkindern zu stärken.