Aktuelle Nummer 23 | 2024
03. November 2024 bis 16. November 2024

Schwerpunkt

Erntedank

von Reto Stampfli

Der Erntedank scheint in unserer modernen Gesellschaft aus der Mode gekommen zu sein. Doch diese Wahrnehmung täuscht; hat doch der gemeinschaftliche Dank ein neues Gesicht erhalten und erfährt durch ein gesteigertes Naturbewusstsein neue Aufmerksamkeit. 

Vermutlich war der Dank für die Ernte eine der ersten kultischen Handlungen, die Menschen schon vor Jahrtausenden im Blick auf eine höhere Macht vollzogen haben. In vorindustriellen Epochen war die Erntezeit von entscheidender Bedeutung für das Überleben der Gemeinschaften. Ein erfolgreiches Erntejahr sicherte das Durchkommen während des Winters. Das Erntedankfest war daher ein Moment des Feierns und Innehaltens, in dem die harte Arbeit der Bauern gewürdigt und die Götter um Schutz und eine gute Ernte im nächsten Jahr gebeten wurden.  

Unser tägliches Brot
Im Christentum ist Erntedank ein Anlass, Gott für die Gaben der Erde zu danken. Es ist oft mit Feiern verbunden, bei denen die Kirche mit Erntegaben geschmückt wird. Unterschiedliche Bräuche sind mit dem Erntedankfest verbunden, wie Prozessionen, Tänze, Musik oder das Backen von speziellen Broten. Diese Traditionen helfen, kulturelle Identität zu bewahren und weiterzugeben. In einigen Gegenden werden die Gaben an Bedürftige verteilt, was den Aspekt der Nächstenliebe betont. Vielerorts wird aus den letzten Ähren des Feldes eine Erntepuppe oder eine Erntekrone geflochten. In der katholischen Kirche sind Erntedankfeste seit dem 3. Jahrhundert belegt. Der Termin für Erntedank ist in der Regel der erste Sonntag im Oktober. Jenseits des Festes gibt es im Jahresverlauf auch andere Anlässe, die dem Grundgedanken des Dankes für die Gaben der Schöpfung folgen: Dazu gehören etwa die Kräuterweihe an Mariä Himmelfahrt und der festliche Alpabzug in den Bergen. Für Christen hat im Grunde jeder Gottesdienst einen Hauch von Erntedank, denn im Vaterunser heisst es: «Unser tägliches Brot gib uns heute.» Diese Bitte erinnert uns jedes Mal neu daran, was das Wort «Brot» alles umfasst und wie notwendig es für ein gelingendes Leben ist. «Brot» steht dabei für alles, was wir zum Leben brauchen. Neben vielen materiellen Dingen hungern wir Menschen auch nach Liebe und Zuwendung, nach Anerkennung und Aufmerksamkeit, nach Versöhnung und Geborgenheit.  

Naturbewusstsein
In der heutigen Zeit gewinnt das Erntedankfest auch eine neue Bedeutung im Hinblick auf Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit. Es erinnert daran, wie wichtig eine ­intakte Natur und nachhaltige Landwirtschaft für die Menschheit sind. Die Bedeutung von Erntedank änderte sich über die Jahrhunderte: Mit der industriellen Massenherstellung von Lebensmitteln und dem weltweiten Handel wurde das Bewusstsein für die Abhängigkeit von der heimischen Ernte geringer – womit auch ein Bedeutungsverlust des Festes einherging. Im Dritten Reich führten die Nationalsozialisten das Fest mit grossem Propagandaaufwand wieder ein und instrumentalisierten es. Naturbewusstsein im Christentum bezieht sich auf das Bewusstsein und die Anerkennung der Natur als eine Schöpfung Gottes und die daraus resultierende Verantwortung des Menschen, die Natur zu bewahren und zu respektieren. Bereits vor 150 Jahren kritisierte der amerikanische Schriftsteller und «Wald-Einsiedler» Henry David Thoreau: «Dichtung und Mythologie des Altertums deuten darauf hin, dass die Landwirtschaft einst als eine heilige Kunst geübt wurde. Bei uns aber wird sie mit einer unbekümmerten, nachlässigen Hast betrieben, die auf nichts anderes bedacht ist, als möglichst grosse Farmen zu besitzen und möglichst grosse Ernten einzubringen.» Christinnen und Christen sind aufgerufen, als Verwalter der Erde zu handeln. Das bedeutet, die natürlichen Ressourcen mit Respekt und Vorsicht zu nutzen, die Umwelt zu schützen und sich um die Bedürfnisse aller Lebewesen zu kümmern. Naturbewusstsein kann auch eine tiefe spirituelle Verbindung zur Natur beinhalten. Viele Christen sehen in der Schönheit und Vielfalt der Natur eine Offenbarung Gottes und erleben durch die Natur eine tiefere Beziehung zu ihrem Glauben. 

Dankbarkeit
In vielen Religionen wird Dankbarkeit als wichtige spirituelle und moralische Haltung betont, die das Herz reinigt und den Geist öffnet. Auch in der antiken Philosophie, besonders in der Ethik von Aristoteles und den Stoikern, wird Dankbarkeit als Tugend angesehen, die zu einem erfüllten ­Leben beiträgt. Dankbarkeit stärkt soziale Bindungen, da sie Anerkennung und Wertschätzung für die Hilfe, Unterstützung und Freundlichkeit anderer Menschen ausdrückt. Das kann Vertrauen und Wohlwollen in Beziehungen fördern. Aktuelle Studien zeigen, dass dankbare Menschen oft glücklicher und zufriedener sind. Die Praxis der Dankbarkeit kann zu einem grösseren emotionalen Wohlbefinden führen, weil sie den Fokus auf positive Aspekte des Lebens lenkt. Dankbarkeit erfordert die Anerkennung, dass man auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen ist. Dies fördert eine Haltung der Demut und verhindert Arroganz. Dankbarkeit regt auch dazu an, über die moralischen Dimensionen unseres Lebens nachzudenken und anzuerkennen, wie viele Menschen und Umstände zu unserem Wohlergehen beitragen. Das kann zu einem tieferen Verständnis von Gerechtigkeit und Fairness führen. Oder mit den Worten des deutschen Dramatikers August von Kotzebue zusammengefasst: «Dankbare Menschen sind wie fruchtbare Felder. Sie geben das Empfangene zehnfach zurück.» 

Bewahrung der Schöpfung 
Der christliche Glaube sieht die Welt als Gottes gute Schöpfung. Der Mensch hat den Auftrag, die Welt zu gestalten und die Schöpfung zu bewahren. Die Sorge für die «Mutter Erde» ist nicht eine unter vielen Fragen, sondern die Überlebensfrage des Planeten überhaupt. «Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.» (Genesis 1,31). Die Schöpfung Gottes ist kein Zufallsprodukt. Sie ist gewollt und aus Liebe erschaffen. Auch im Buch der Psalmen klingt die Freude über die gute Schöpfung an: «Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen» (Psalm 104). Mit dem in der ganzen Gesellschaft gestiegenen Umweltbewusstsein der vergangenen Jahrzehnte bekamen die Worte von der «Bewahrung der Schöpfung» eine neue Bedeutung: Mittlerweile stellen viele Gemeinden an Erntedank den Umweltschutz oder die Entwicklungshilfe in den Vordergrund. An dem Tag wird auch an die Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft appelliert. Wie kein anderer hat Franz von Assisi es verstanden, auf diesen Aspekt hinzuweisen: Für ihn ist der Mensch Teil der Schöpfung, er steht nicht über ihr, sondern ist ein Teil des Universums. In besonderer Achtung vor der gesamten Umwelt – der Pflanzen, der Tiere, des Wassers, der Luft und der Erde – trägt der Mensch die Sorge für den Fortbestand des Lebens.   

 

Der Tag zieht herauf, ein neuer Tag bricht an.
Die Menschen stehen auf und gehen an die Arbeit.
Bis zum Abend vollbringen sie ihr Werk.
Die Saat lässt du wachsen für die Menschen.
Sie ernten und essen ihr tägliches Brot.
Tiere und Menschen warten auf dich, Gott.
Du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.
(aus Psalm 104)