Aktuelle Nummer 26 | 2024
15. Dezember 2024 bis 28. Dezember 2024

Editorial

Die Wiege des Christentums

Der Nahe Osten spielt eine zentrale Rolle in der Ent­stehung und frühen Verbreitung des Christentums. Die noch junge Religion fand von dort ihren Weg in andere Teile des Römischen Reiches. In den Hafenstädten entstanden prosperierende Gemeinden. Heute ist ein Grossteil der Christen im Nahen Osten von politischer Instabilität, bewaffneten Konflikten, aufkommendem Extremismus und Diskriminierung bedroht. In vielen Ländern der Region ist ihre Zahl in den letzten Jahrzehnten drastisch zurückgegangen. Vor dem Bürgerkrieg 2011 lebte zum Beispiel in Syrien eine bedeutende christliche Minderheit, die etwa 10 % der Bevölkerung ausmachte. Mit dem Ausbruch des Krieges und dem Aufstieg extremistischer Gruppen wie dem Islamischen Staat (IS) wurden viele Christen zu Zielscheiben von Verfolgung und Gewalt. Die christliche Gemeinschaft im Irak, die historisch gesehen eine der ältesten der Welt ist, hat seit dem Sturz von Saddam Hussein 2003 stark gelitten. Der IS zerstörte Kirchen, nahm christ­liche Frauen gefangen und ermordete oder vertrieb Tausende. Obwohl Ägypten eine der grössten christ­lichen Gemeinschaften im Nahen Osten hat, sind die Kopten oft Ziel von Diskriminierung und Gewalt. In den palästinensischen Gebieten, insbesondere in Bethlehem, findet man eine bedeutende christliche Diaspora. Doch auch hier ist in den letzten Jahrzehnten die Zahl der Gläubigen stark zurückgegangen.

Es gibt jedoch auch Regionen wie den Libanon oder Israel, wo Christen eine gewisse Freiheit und politischen Einfluss haben. Speziell der Libanon ist eine Ausnahme, da hier das Christentum eine wichtige Rolle im politischen System spielt. Christen, vor allem Maroniten, stellen etwa einen Drittel der Bevölkerung dar. Im libanesischen politischen System ist das Präsidentenamt stets einem Christen vorbehalten. Allerdings ist die christ­liche Gemeinschaft auch im Libanon durch Abwanderung geschwächt. Am gefährlichsten ist jedoch das Wirken der schiitisch-muslimischen Hisbollah-­Miliz. Durch die kriegerischen Ereignisse der vergangenen Wochen sind viele von Christen bewohnte Ortschaften ins Feuer geraten. Die Wiege des Christentums ­
steht sinnbildlich in einem brennenden Haus, das von mehreren Seiten her belagert und beschossen wird.

Mit freundlichen Grüssen

Reto Stampfli