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Schwerpunkt
Ein klares Ziel vor Augen
von Reto Stampfli
Der Dominikaner Timothy Radcliffe ist überzeugt: Christen sind daran zu erkennen, dass sie ein klares Ziel vor Augen haben, nach dem sie sich ausrichten: Gott. Und das hat erkennbare Folgen für das Leben im Hier und Heute.
Papst Franziskus hat im Dezember 21 Geistliche in den Kardinalsstand erhoben. Einer davon ist der englische Pater Timothy Radcliffe. Bei der Weltsynode liessen seine originellen, humorvollen Predigten Bischöfe wie Laien aufhorchen. Radcliffe wurde in London geboren und trat 1965 dem Dominikanerorden bei. Er studierte in Oxford und Paris Theologie und Literatur. Von 1992 bis 2001 war er der weltweite Leiter des Dominikanerordens. Radcliffe ist für seine reflektierten und zugänglichen Bücher bekannt. Er hat auch keine Bedenken, kontroverse Themen innerhalb der Kirche anzusprechen. Seine im englischen Sprachraum sehr bekannten Werke und Vorträge sind von einem Geist der Versöhnung und Hoffnung geprägt. Der neu ernannte Kardinal ist Ehrendoktor der Universität Fribourg.
Die Frage nach dem Christsein
Timothy Radcliffe beginnt seine Hinführung zum Christentum, die den Titel trägt: «Warum Christ sein? Wie der Glaube unser Leben verändert» (2005), mit der zentralen Frage, warum es in der heutigen Welt überhaupt sinnvoll sein könnte, sich als Christin oder Christ zu bekennen. Er resümiert: «Denn das Christentum ist entweder der Versuch, diese grundlegende Frage zu beantworten, oder es ist gar nichts.» Der aktive Seelsorger ist überzeugt, dass das Christsein nicht nur ein moralisches oder spirituelles Konzept ist, sondern eine Lebensweise, die unser tiefstes Sein transformiert. Ein wesentlicher Aspekt des Christentums ist für ihn die Gemeinschaft. Er betont, dass der Glaube nicht in Isolation gelebt werden kann, sondern in der Verbindung mit anderen. Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die auf der Suche nach Gott sind. Trotz aller Unvollkommenheit der Institution Kirche ist sie der Ort, an dem Menschen Trost, Inspiration und Orientierung finden können. Das Christentum muss also etwas verändern und bewirken – auch wenn dieses Etwas nicht der Grund ist, warum man Christ ist. Wäre es etwa bewiesen, dass Christen ruhiger und entspannter sind als andere Menschen, würde man trotzdem nicht mit dem Argument für den Glauben werben, dass man weniger gestresst ist. «Werde Christ, und du kannst nachts besser schlafen!» Radcliffe ist überzeugt, dass die Religion zu einem netten Lifestyle-Accessoire, ähnlich dem Gang ins Fitnessstudio, verkäme: «Gott würde uns als nützlich verkauft, wie ein Badeöl oder die Aromatherapie. Aber einmal angenommen, der Glaube würde tatsächlich entspannter, glücklicher, mutiger oder was auch immer machen, dann könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass die Wahrheitsansprüche des Christentums nicht belanglos sind, ja dass es sich möglicherweise lohnt, sie näher unter die Lupe zu nehmen. Hat die Ausrichtung des eigenen Lebens auf Gott als letztes Ziel Konsequenzen wie die, uns frei zu machen (was ich behaupte), wird man, noch einmal, den Menschen das Christentum nicht damit nahebringen, dass es sie frei macht. Wenn sie aber, umgekehrt, die Christen als frei wahrnehmen, an ihnen eine Freiheit spüren, die anziehend und faszinierend ist, werden sie vielleicht neugierig darauf, warum das so ist, und bekommen Interesse an dem Gott, zu dem wir uns bekennen.»
Der Ruf zur Freiheit
Die Freiheit ist der zentrale Punkt im Christentum. Radcliffe erklärt, dass die christliche Botschaft die Menschen dazu einlädt, frei zu werden – frei von Angst, Schuld und Zwängen. Diese Freiheit kommt aus der Begegnung mit der Liebe Gottes, die uns bedingungslos annimmt. Beim letzten Abendmahl vollzieht Jesus die freiste Handlung der menschlichen Geschichte. Er gibt sein Leben hin: «Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.» Gleichzeitig fordert diese Freiheit dazu heraus, Verantwortung für andere zu übernehmen und das eigene Leben in den Dienst am Nächsten zu stellen: «Niemand kann wirklich frei sein, solange auch nur ein anderer noch gefangen ist.»
Die Freude des Glaubens
Christsein bedeutet auch, Freude zu erfahren. Radcliffe beschreibt, wie der Glaube den Menschen befähigt, die Schönheit des Lebens zu erkennen, selbst in schwierigen Zeiten. Die christliche Freude ist keine oberflächliche Fröhlichkeit, sondern eine tiefe, innere Freude, die aus der Gewissheit stammt, geliebt und Teil von Gottes grossem Plan zu sein. Diese Freude inspiriert und motiviert dazu, das Gute zu tun. Für den weitgereisten Theologen ist der christliche Glaube ein Abenteuer. Es geht darum, sich auf den Weg zu machen, Neues zu entdecken und sich von Gott überraschen zu lassen. Der Glaube fordert dazu heraus, die Komfortzone zu verlassen und sich auf das Unbekannte einzulassen. In einer Welt, die oft von Angst und Unsicherheit geprägt ist, bietet der Glaube eine Perspektive, die Mut und Hoffnung schenkt. Aber: «Es gibt keinen Mut ohne Klarsicht. Wenn man in ein brennendes Haus rennen würde, um ein Kind zu retten, riskiert man, selbst Verbrennungen davonzutragen oder sogar zu sterben. Wenn ich mir jedoch einreden würde, unverwundbar zu sein, wäre ich nicht mutig, sondern dumm. Angst vor dem Feuer zu haben, ist angemessen. Aber mutige Menschen werden nicht von der Angst beherrscht.»
Die Wahrheit des Evangeliums
Radcliffe argumentiert, dass der christliche Glaube keine blosse Meinung ist, sondern eine Wahrheit, die unser Leben und die Welt radikal verändert. Diese Wahrheit wird nicht durch Zwang vermittelt, sondern durch Liebe. Das Evangelium lädt dazu ein, die Wirklichkeit mit den Augen Gottes zu sehen und sich von seiner Wahrheit prägen zu lassen. Diese radikale Liebe ist nicht immer einfach, aber sie ist der Weg, den Christus vorgelebt hat. Radcliffe zeigt auf, dass die Liebe nicht nur eine persönliche Tugend ist, sondern auch gesellschaftliche Auswirkungen hat – sie verändert Beziehungen, Strukturen und letztlich die Welt. Das Christentum ist eine Religion der Hoffnung. Er betont, dass diese Hoffnung nicht naiv oder weltfremd ist, sondern aus dem Glauben an die Auferstehung Christi entsteht: «Wir müssen uns gegenseitig Mut machen und den Pakt mit den Mächten des Schweigens, den Mächten des Grabes absagen. Wir können auf alle Selbstzensur verzichten, die furchtsam darauf schielt, was andere Menschen denken könnten, wenn man die Wahrheit sagt.
Es bleibt alles beim Weissen
So in etwa lässt sich die jüngste Entscheidung des Papstes beschreiben, dem englischen Dominikanerpater und Kardinal Timothy Radcliffe den Verzicht auf das Kardinalsgewand zu gestatten. In einem Interview mit dem englischen Rundfunksender «BBC» sagte der Mönch, er habe den Pontifex gefragt, ob er von der «aufwendigen Kardinalsrobe» befreit werden könne. Der Papst, so Radcliffe, habe ihm noch am selben Tag mitgeteilt, er habe «volles Verständnis» für seine Situation und werde ihn «vom Tragen der aufwendigen Kleidung befreien».
Seit dem 7. Dezember 2024 gibt es 253 Kardinäle. 140 von ihnen wären bei einem Konklave aktuell stimmberechtigt, weil sie noch nicht älter als 80 Jahre alt sind. Insgesamt 149 der Kardinäle wurden von Papst Franziskus ernannt (110 von ihnen wären heute berechtigt, einen neuen Papst zu wählen). Damit wurden mehr als Dreiviertel eines künftigen Konklaves von Franziskus eingesetzt.