Das Buch der Bücher

von Reto Stampfli

Ein literarisches Juwel findet seinen Weg zurück in den Jura: Die Bibel von Moutier-Grandval, die als eine der ältesten illustrierten Bibeln der Welt zählt, die noch komplett erhalten ist, wird von März bis Juni 2025 nach Delémont ausgeliehen und im Rahmen einer Ausstellung gezeigt. 

«Das ist ja nur ein Buch», könnte man denken. Zwar ein ziemlich altes und dickes Buch, aber halt doch einfach ein Stapel Papier zwischen zwei Deckeln. Doch der Codex von Moutier-Grandval, der nach einer 10-jährigen Vorbereitung zurück in der Schweiz ist, stellt eine Sensation im wortwörtlichen Sinn dar. Die 449 Seiten umfassende Handschrift ist eine «Provokation» für uns moderne Menschen: In jahrelanger Handarbeit wurden 200 Schafshäute verarbeitet, Buchstabe für Buchstabe, Strich für Strich, Punkt für Punkt entstand durch das präzise Wirken von mehr als zwei Dutzend Mönchen ein Meisterwerk sondergleichen, die Heilige Schrift als kreative Fleissarbeit. Wer würde so etwas heute, in unserer schnelllebigen und gewinngetriebenen Zeit, noch auf sich nehmen?

Ein Werk für die Ewigkeit
Das «Jahrtausendbuch» von Moutier-Grandval liefert einen einmaligen Einblick in die Glaubenswelt und Kultur des frühmittel­alterlichen Christentums. In seiner Form als Codex ist es als Dokument der Wegbereiter des heutigen Buches und setzte sich als robustere Variante etwa Mitte des 4. Jahrhunderts gegenüber der ursprünglichen Schriftrolle durch. Die fundamentale Bedeutung, die die Bibel im Weltverständnis, im Denken und Handeln der Menschen im Mittelalter gespielt hat, ist kaum zu überschätzen. Die heilige Schrift, das Buch der Bücher, war grundlegend für viele Ausprägungen der Kunst und sie stellte das Zen­trum für das heilsgeschichtliche Verständnis dar. Die Bibel galt als das unveränderliche Wort Gottes, die höchste Quelle der Wahrheit und Weisheit. Sie wurde von der Kirche als das entscheidende Dokument für den Glauben und das Leben betrachtet. Ein ganz besonderes Exemplar, was das Format wie auch die Bedeutung betrifft, ist die kostbare Bibel von Moutier-Grandval. Der erstaunliche Umfang des 22 Kilogramm schweren Werkes hat einen theologischen Hintergrund: Die sogenannten karolingischen Pandekten banden den lateinischen Text von Altem und Neuem Testament repräsentativ in ein Buch, um die Zusammengehörigkeit der beiden Teile der Bibel zu demonstrieren.  

Ein Geschenk aus Frankreich
Das mehrere Hundert Seiten umfassende Manuskript entstand um das Jahr 840 in der Abtei Saint-Martin de Tours in Zen­tralfrankreich, bevor es der Abtei von Moutier-­Grandval geschenkt wurde. Der Codex ist zeitgemäss in lateinischer Sprache verfasst und für seine kunstvolle Gestaltung berühmt. Die Bibel stellt ein faszinierendes Beispiel für die Kunstfertigkeit der Karolingischen Renaissance dar, einer Epoche, in der das fränkische Reich unter Karl dem Grossen ein intensives Interesse an Kultur und Bildung entwickelte. Handschriften wurden auf Pergament (Tierhaut) geschrieben, während Papier erst ab dem Spätmittelalter verwendet wurde. Meist wurden Eisengallustinte (schwarz-braun) und Pigmente wie Zinnober (rot) oder Azurit (blau) für Miniaturen und Initialen verwendet. Frühe Codices bestanden oft aus zusammengenähten Lagen, mit Ledereinband oder Holzdeckeln. Die Karolingische Minus­kel ist eine klare, gut lesbare Schrift, die als Basis unserer modernen Kleinbuchstaben diente. Die zahlreichen Miniaturen (bildhafte Darstellungen, oft vergoldet), die verzierten Initialen (Anfangsbuchstaben) und die Randverzierungen machen das Werk unverwechselbar. Anders als heute, waren diese exklusiven Schriften über Jahrhunderte nur einer Elite zugänglich. Heute können Forscher und Interessierte, auch ausserhalb von Ausstellungen, Dank der Digitalisierung Einblick in das mittelalterliche Schaffen gewinnen, denn viele ­Bibliotheken stellen ihre Handschriften online zur Verfügung (z. B. Manuscripta Mediaevalia, Gallica und auch die British Library). 

Hier war ein Kloster?
Kaum jemand weiss heute noch, dass vor rund 1400 Jahren im «grossen Tal» (Grandval) zwischen der ersten und zweiten Jurakette ein Kloster errichtet wurde. Die monastische Gemeinschaft wurde um das Jahr 640 vom einflussreichen Kloster Luxeuil aus in der Nähe des alten Bachbetts der Birs, ­östlich der heutigen Rue de la Prévôté, ­gegründet. Erst später entstand um das Kloster herum der Ort Moutier / Münster (monasterium). Es war ein Zentrum der Christianisierung und ein wichtiger Stützpunkt der Benediktiner im Jura. Von hier aus wurde die frohe Botschaft in ein grösstenteils heidnisches Umfeld hinausgetragen. Ein nicht ungefährliches Unterfangen: Der erste Abt von Grandval, Germanus, wurde 675 zusammen mit dem Mönch Randoald erschlagen, wie die vom Mönch Bobolenus verfasste Vita berichtet. 999 schenkte König Rudolf III. von Burgund das Kloster dem Bischof von Basel, dadurch wurde der Grundstein für das Fürstbistum Basel gelegt. Im 12. Jahrhundert wurde das Kloster in ein Chorherrenstift umgewandelt, 1534 nach Delémont verlegt und 1801 schlussendlich aufgehoben. Nach der Auflösung wurden die Gebäude zerstört oder alternativ genutzt. Heute existieren nur noch wenige Überreste; die Stadt Moutier erinnert mit Strassennamen und historischen Markierungen an das einstige Kloster. 

Deutungsmonopol
Bis ins 15. Jahrhundert kannten die wenigsten das Buch der Bücher aus eigener Lektüre. Das lag nicht nur daran, dass ein grosser Teil der Gesellschaft nicht schriftkundig oder zumindest des Lateinischen nicht mächtig war. Bis ins Spätmittelalter hinein gab es auch immer wieder Verbote für Laien, die Heilige Schrift zu lesen. Die Kirche wollte ihr Deutungsmonopol nicht verlieren. Übersetzungen galten als Teufelszeug. Dennoch übertrugen schon vor Luther etliche Christen das Buch der Bücher in die Volkssprache. Im Zuge der religiösen Bewegungen des 12. und 13. Jahrhunderts begannen sich auch Laien für die Bibel zu interessieren, und erstmals wurden Ansprüche laut, sie selbst auszulegen. Die Kirche wies dies vehement zurück. 1199 untersagte Innozenz III. die Bibellektüre bei privaten Zusammenkünften, und auf der 1229 in Toulouse unter der Leitung Gregors IX. tagenden Synode wurde den Laien der Besitz des Alten und Neuen Testaments mit Ausnahme des Psalters und des Stundenbuchs untersagt. 1234 erklärten die spanischen Bischöfe auf der Synode von Tarragona jeden zum Ketzer, der eine romanische Übersetzung der Heiligen Schrift besass.  

Eine abenteuerliche Reise
Seit 1836 wird die Bibel von Moutier-Grandval in der renommierten British Library in London aufbewahrt (Sign. Add. Ms. 10546). Nach der Schliessung des Klosters gelangte der berühmte Codex nach Delémont. Hier fanden spielende Kinder im frühen 19. Jahrhundert die Bibel auf einem Dachboden. Sich des Wertes nicht bewusst veräusserte der Bürgermeister von Delémont die Bibel an einen Buchhändler in Basel, der sie zu ­einem Spitzenpreis an die British Library weiterverkaufte. Das Schicksal dieses Manuskripts ist ein typisches Beispiel für die Wege mittelalterlicher Handschriften durch Verkäufe in die grossen Bibliotheken Europas.  

Sowohl für das Publikum wie auch für akademische Kreise ist die Ausstellung der Bibel von Moutier-Grandval in Delémont ein ausserordentliches Ereignis. Sie wird durch zahlreiche kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen ergänzt.

Die Bibel von Moutier-Grandval bis am 8. Juni 2025 im Musée jurassien d’art et d’histoire (MJAH) in Delsberg zu sehen (Reservation obligatorisch). 

Für Schulen und Gruppen öffnet das Museum auf Anfrage auch ausserhalb der regulären Öffnungszeiten.

www.mjah.ch