Editorial

Eine andere Art von Kirche

Was für eine Kirche wird ein Kind von heute im Jahr 2050 antreffen? Eines ist sicher: Die christlichen Kirchen werden tiefgreifende Veränderungen durchlaufen haben, bedingt durch gesellschaftliche, theologische und strukturelle Entwicklungen. In westlichen Ländern wird der Rückgang der Kirchenmitglieder nicht zu stoppen sein, da Säkularisierung und Individualisierung zunehmen. In Afrika und Teilen Asiens könnte die Kirche hingegen massiv wachsen. Vieles deutet darauf hin, dass zukünftig das Herz des Christentums nicht mehr auf dem «alten Kontinent» in Europa schlagen wird. Seine Zukunft wird nicht in Rom, Paris oder Berlin liegen, sondern in Lagos, São Paulo und Manila. Genau das behauptet der aus Wales stammende Historiker Philip Jenkins in seinem Buch «The Next Christendom: The Coming of Global Christianity». Jenkins, ein vom Katholizismus zum Anglikanismus konvertierter Christ, zeigt in seinem Werk über die Zukunft der christlichen Kirchen eindrucksvoll auf: Während in Europa immer weniger Menschen in die Kirche gehen, erlebt das Christentum in Afrika, Asien und Lateinamerika einen wahren Aufbruch. Die von ihm aufgeführten Zahlen sind eindrücklich: 1900 lebten in Afrika etwa 10 Millionen Christen – heute sind es über 600 Millionen. Lateinamerika, einst katholisch geprägt, erlebt einen augenfälligen Zuwachs an evangelischen und pfingst-kirchlichen Gemeinden. In Asien, vor allem in China, wachsen Hauskirchen trotz Verfolgung rasant. Das bedeutet: Schon in wenigen Jahrzehnten wird die Mehrheit der Christen nicht mehr im Westen, sondern im sogenannten «Globalen Süden» leben. Eine Verschiebung der kirchlichen Machtzentren ist möglich. Der katholische Glaube, der sich in Afrika und Asien rasch verbreitet, wird dadurch vermutlich wieder traditioneller, im Gegensatz zu Europa und den USA. Auf der anderen Seite könnte im technischen und strukturellen Bereich KI für Bibelauslegungen, Seelsorge und Verwaltung genutzt werden. Ob die Kirche in 2050 noch als eine einheitliche Institution existiert oder sich in verschiedene Strömungen aufgespalten hat, bleibt abzuwarten. Vieles wird davon abhängen, wie sie mit den Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte umgeht. Es wird auf jeden Fall eine andere Art von Kirche sein. 

Herzliche Grüsse 
Reto Stampfli