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Schwerpunkt
Den Tod überleben
von Reto Stampfli
Der Verlust eines geliebten Menschen zählt zu dem Furchtbarsten, was uns widerfahren kann. Es ist eine unmittelbare Herausforderung für den, der bis auf Weiteres am Leben bleibt. Der offene Austausch und die Erfahrungen anderer können uns in diesem anspruchsvollen Prozess weiterhelfen.
Jeder Mensch geht in seinem Leben unterschiedlich mit der Herausforderung eines Verlusts um. Auch die Ursachen sind individuell: Der Tod eines geliebten Menschen, eine Trennung, ein Jobverlust oder ein anderes tiefgreifendes Ereignis können uns aus der Bahn werfen. Es ist wichtig, sich dem Verlust und der daraus entfachten Verzweiflung, Wut und Trauer zu stellen. Das ist ein notwendiger Heilungsprozess für die Seele, der genügend Zeit und Raum fordert.
Lebenskunst und die Kunst des Sterbens
Der deutsche Autor Wilhelm Schmid gilt eigentlich als Philosoph der Lebenskunst. Er hat jedoch ein ganz persönliches Buch zum Thema «Tod und Trauer» verfasst. Geschrieben hat er es, nachdem seine Frau Astrid am Heiligabend 2021 an Krebs verstorben war. Wilhelm Schmid spricht in seinem Schaffen ganz offen dieses Tabuthema an. Der Tod wird nach seiner Ansicht – jedenfalls in der westlichen Welt – immer weniger öffentlich wahrgenommen. «Viele Menschen sterben still und leise in Einrichtungen – klinisch steril», konstatiert der ehemalige Spitalseelsorger von Affoltern am Albis. Das Thema «Tod» wird beiseitegeschoben, wie oft die sterbende Person selbst auch. Schmid, der auch als ausserplanmässiger Professor an der Universität Erfurt wirkt, beschäftigt sich in seinem Werk intensiv mit dem Lebensende und stellt alle möglichen Gedanken dazu an. So geht er einleitend der provokativen Frage nach, welchen Sinn der Tod hat, und kommt zur nicht minder provokativen Antwort: Er macht das Leben wertvoll: «Wer den Tod aus dem Leben verbannt, verliert die Tiefe des Lebens.» Schmid betont dabei, dass die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit das Leben intensiver und bewusster macht: «Der Tod lehrt uns, das Leben zu schätzen, weil es endlich ist.» Nur wenn man den Tod als Möglichkeit ernst nimmt, gewinnt das Leben Gewicht und Bedeutung. Zur Frage, ob es sich fremd anfühlt, als Philosoph und Wissenschaftler über den Tod und das Jenseits nachzudenken, antwortete Schmid in einem Interview: «Nein, das war mein Weg von Anfang an, der Weg der Lebenskunst. Es war immer klar: Zum Leben gehört auch Tod. Und zur Lebenskunst gehört der Umgang mit dem Tod.»
Der Umgang mit Tod und Trauer
Wilhelm Schmid hat in seinem Buch unter anderem viel Wissen zum Thema Sterben zusammengetragen. Mit diesem Wissen will er auch Hilfe anbieten und etwa aufzeigen, was trösten kann. Er beschäftigt sich auch mit den Phasen im Umgang mit Sterben und Tod. Lange Zeit wurde der Trauerprozess mit einem 5-Phasen-Modell definiert. Mittlerweile gilt dieses Modell der Trauerphasen jedoch als überholt. Der amerikanische Psychologe und Trauerforscher George Bonanno hat anhand konkreter Beispiele gezeigt, dass Trauer nicht nur überwunden wird – sie kann auch einen positiven Wandel bei Betroffenen auslösen. Wilhelm Schmid spricht in diesem Zusammenhang von «Facetten des Überlebens». Er zeigt acht Phasen auf, die er in seinem persönlichen Trauerprozess ausgemacht hat. So berichtet er unter anderem von der Verzweiflung und Fassungslosigkeit am Grab, immer wieder aufflackernder Wut und einem konstanten Hadern mit sich selbst und seiner Umwelt. «Das Phänomen des gebrochenen Herzens gibt es wirklich», resümiert er schlicht und einfach. Doch er erwähnt auch die positiven Aspekte in diesem langwierigen Prozess: So sieht er «Gespräche und Austausch» als eines der effektivsten Hilfsangebote. Doch das gut gemeinte «Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst!» hilft nur, wenn es wirklich umgesetzt wird. Für Schmid ist es fundamental, dass niemand mit seinem Schmerz und seinen Gedanken allein bleiben muss. Man darf sich nicht verschliessen. In Gesprächen lässt sich das verlorene Leben betrachten, und manches kann anders eingeordnet werden als bisher. Unterstützung ist überlebenswichtig. Ganz konkrete Vorschläge sind dabei für Trauernde am hilfreichsten, da es die Betroffenen oftmals Überwindung kostet, um Hilfe zu bitten (zum Beispiel bei administrativen Aufgaben). Gespräche können im Prozess der Heilung einen wichtigen Part einnehmen. Unangebracht sind in diesem Zusammenhang als Aufmunterung verstandene Plattitüden oder die Trauer kleinzureden. Trauer hat kein Ablaufdatum und braucht ihre ganz eigene Zeit. Auch Floskeln wie «Es ist alles nicht so schlimm» oder «Die Zeit heilt alle Wunden» helfen nicht weiter. In diesen anspruchsvollen Gesprächen ist Ehrlichkeit ein zentraler Wert und es ist völlig in Ordnung, einer trauernden Person zu sagen, dass man überfordert ist und nicht weiss, wie man mit der Situation umgehen soll.
Wellen
Wenn jemand einen geliebten Menschen verliert, ist die Betroffenheit im Bekanntenkreis gross – gerade in der ersten Zeit bis zur Beerdigung. Hilfe wird aber vor allem danach, wenn Trauernde sich wieder im Alltag zurechtfinden müssen, benötigt. Die Trauer kennt jedoch keinen Zeitrahmen und lässt sich nicht auf eine konkrete Dauer reduzieren. Nach Ansicht des in Lausanne tätigen Palliativmediziners Gian Domenico Borasio verläuft die Trauer in Wellen: Nach dem Tod eines geliebten Menschen etwa werden die Hinterbliebenen immer wieder von tiefer Trauer eingeholt. Dazwischen treten jedoch auch positive Gefühle auf, die helfen, den Verlust zu ertragen und die Trauer zu bewältigen. Schmid spricht in diesem Zusammenhang von «Gewöhnung»: Was wiederholt auftritt, sorgt unweigerlich für eine Gewöhnung. Die Situation verliert ihre Fremdheit und wird ein wenig vertraut. Es bleiben wehmütige Erinnerungen, aber eine Rekonsolidierung findet statt. Die Intensität der Trauer nimmt im Lauf der Zeit ab, sodass die Trauerwellen erträglicher werden, bis die trauernde Person ihr Gleichgewicht wiederfindet und weiterleben kann. Das Wellenmodell liefert eine Erklärung für den irritierenden Umstand, warum Trauernde schon kurze Zeit nach der Bestattung erträgliche oder «normale» Momente erleben und sogar lachen können, um bald darauf wieder tief zu trauern.
Den Toten ihren Platz geben
Robert Neimeyer, Professor für Klinische Psychotherapie an der Universität von Memphis/Tennessee, hat den Begriff «continuing bonds» (fortgeführte Beziehungen) geprägt. Demnach gehört es zum Trauern nicht dazu, den verlorenen gegangenen Menschen «loszulassen» und mit dem Verlust abzuschliessen, wie einige Phasenmodelle das vorschlagen, sondern trauernde Menschen finden weiterhin einen Platz für die Toten in ihrem Leben und ihren Gemeinschaften. Es steht dem Einzelnen frei, nicht das Ende des Lebens im Tod zu sehen, mit oder ohne Bezug zu einem Gott oder einer letzten Wahrheit. Spiritualität, Wertvorstellungen und Lebenssinn nehmen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle ein. Wilhelm Schmid resümiert in seinem Buch auf ganz persönliche Art und Weise: «Die Energie bleibt ja, auch wenn der Mensch verstorben ist. Es ist, als schenke der tote Mensch seine Energie den Lebenden, die in Gedanken und Gefühlen bei ihm sind.» Somit ist sein Buch nicht nur ein Werk über den Tod – sondern auch – wie er betont – über die Liebe. Die Liebe endet nicht nach dem Tod.
Gian Domenico Borasio: Über das Sterben. Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen. dtv Verlag. München 2014.
Monika Renz: Hinübergehen. Was beim Sterben geschieht. Annäherungen an letzte Wahrheiten unseres Lebens. Herder Verlag. Freiburg i. Br. 2016.
Wilhelm Schmid: Den Tod überleben. Vom Umgang mit dem Unfassbaren. Insel Verlag, Berlin 2024.