Die Sehnsucht nach dem «grossen Licht»

«Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein grosses Licht» (Jesaja 8, 1). Es ist dies eine Verheissung, die einen umhaut. Wenn man an sie glaubt. Zugesprochen hat dieses Wort der Prophet Jesaja seinen Landsleuten, die im 8. vorchristlichen Jahrhundert von den feindlichen Assyrern verschleppt und unterdrückt wurden. Und realistisch betrachtet keine Zukunft mehr hatten.

Perspektivlosigkeit macht jede Hoffnung zunichte? Mag sein. Dass dies aber längst nicht immer zutrifft, lehren uns die Märchen. Die handeln bekanntlich von Dingen, welche nie geschehen sind und sich doch jeden Tag neu ereignen.

Viele von ihnen erzählen davon, wie erfahrungshungrige Menschen sich auf Fahrt begeben; dabei geht es aber nicht um Länder-, sondern um Seelenkunde. Sie machen sich auf die Suche nach einem kostbaren Schatz, nach einem verwunschenen Schloss, nach einem reichen Prinzen oder nach einer schönen Königstochter. Sie ziehen in eine andere Stadt, um Wissen zu erwerben und das Leben zu probieren. Wagemutige durchstreifen ferne Gegenden und fremde Länder in der Absicht, dort ihr Glück zu machen. Andere ziehen aus, um das Fürchten zu lernen. Auf ihren Expeditionen werden sie mit allen nur möglichen Schwierigkeiten konfrontiert; oft müssen sie geradezu unglaubliche Hindernisse überwinden, unerwartete Gefahren meistern, furchterregende Abenteuer bestehen. Und doch gelangen sie am Ende zumeist ans Ziel ihrer Wünsche.

Fast immer aber finden sie etwas ganz anderes, als sie sich vorgestellt haben und das sie doch unbewusst immer schon suchten: nämlich sich selbst.

Das zeigt uns auch und gerade die Vision des Jesaja. Seine Zeitgenossen (und er selbst) vermeinen in dem «grossen Licht», das der Prophet aufleuchten sieht, die Freiheit zu erkennen, welche dem Volk Israel blühen wird. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Vergeblich war sie dennoch nicht. Jahrhunderte später haben Menschen dieses Licht ganz anders gedeutet. Sie bezogen es auf die Ankunft des Messias.

Unsere Hoffnungen sind oft verkürzt und unsere Erwartungen allzu kurzfristig. Gelegentlich sind wir uns selber nicht im Klaren, was wir insgeheim (also unbewusst) anstreben. Wir alle warten auf das «grosse Licht». Was es für uns besagt, erkennen wir manchmal erst, nachdem wir uns von dem einen oder anderen Irrlicht leiten liessen.

Josef Imbach ist Verfasser zahlreicher Bücher. Er unterrichtet an der Seniorenuniversität Luzern und ist in der Erwachsenenbildung und in der praktischen Seelsorge tätig.