«Die liberalen Katholiken gewannen in der Politik, verloren aber in der Kirche»

Aus der Geschichte lassen sich Lehren ziehen, auch aus der Kulturkampf-Zeit des 19. Jahrhunderts. Das findet der Historiker und Altnationalrat Josef Lang. Er leitet davon ab, dass die Schweiz die Ausbildung für Imame übernehmen und keine Scharia-Gerichte dulden soll.

Regula Pfeifer

Im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts bekämpften sich liberale und konservative Katholiken bei der Frage, wie die Schweiz als Staatswesen aussehen soll. Das beschreiben Sie in ihrem aktuellen Buch. Hat dieser Kulturkampf etwas mit dem aktuellen Ringen um die Nachfolge des Churer Bischofs zu tun?

Josef Lang: Es gibt Parallelen, aber auch Unterschiede. So steht die aktuelle Leitung des Bistums Chur den Positionen der papsttreuen Katholiken von damals sehr nah, die aktuelle Opposition gegen die Bistumsleitung hingegen der damaligen liberaldemokratischen Opposition. Anders als heute aber hatten im 19. Jahrhundert Auseinandersetzungen um Religion und Kirche auch eine politische Bedeutung. Das ist heute kaum der Fall. Zudem ist die Kirche heute viel offener als früher – was allerdings auf die Leitung des Bistums Chur nicht zutrifft.

Sind auch die Themen vergleichbar?

Lang: Die Fragen, um die es heute geht, haben zum Teil mit den Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert zu tun. Es geht um den Einfluss der Laienkatholiken auf die kirchliche Hierarchie und die Ausrichtung des Bistums in Wertefragen, beispielsweise die Haltung zu Asylsuchenden, zum Umweltschutz oder zum Waffenexport.

Den Kulturkampf beschreiben Sie als eine Auseinandersetzung zwischen liberalen und konservativen Katholiken in der Schweiz.

Lang: Ich muss vorausschicken: Unser Buch widerlegt das Klischee, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Freisinnigen und der katholischen Kirche primär zwischen Protestantismus und Katholizismus abliefen. Das war zwar in Deutschland so. In der Schweiz aber fand der Kulturkampf von 1830 bis 1880 hauptsächlich unter Katholiken statt.

Allerdings gewannen liberale Katholiken die Abstimmungen häufig dank der Unterstützung der freisinnigen Protestanten.

Worum ging es denn?

Lang: Um die Frage: Was ist die Basis eines modernen Gemeinwesens. Ist es – wie traditionell – eine gemeinsame religiöse Überzeugung? Oder ist es der politische Wille der Bürger?

Ging man davon aus, dass die Basis eines modernen Gemeinwesens die gemeinsame Religion sein sollte, hatte man in der Schweiz das Problem, dass es zwei ähnliche starke Konfessionen gab. Der konfessionelle Graben war so abgrundtief, dass man von Religionen sprechen darf.

Damals strebte der katholische-konservative Sonderbund eine Konföderation von zwei konfessionellen Körperschaften an, einem Corpus evangelicum und einem Corpus catholicum. So konnte aber kein moderner Nationalstaat entstehen.

Wäre diese Aufteilung auch territorial umgesetzt worden?

Lang: Ja. Der Sonderbund wollte einen geschlossenen Körper schaffen vom Rhein bis zur Rhone und bis Pruntrut. So wäre der katholische Teil des Aargaus, also die Regionen Freiamt und Baden, dem Kanton Luzern und die zwangsreformierten Teile des Berner Oberlands Obwalden und dem Wallis zugeteilt worden. Die katholische Region Berns wäre zum Kanton Pruntrut geworden – zum heutigen Jura. So wäre ein geschlossenes katholisches Gebiet entstanden – als Riegel zwischen den beiden protestantischen Zentren Bern und Zürich.

Und die liberalen Katholiken?

Lang: Eines der Hauptziele des Liberalismus – also auch der liberalen Katholiken – war die Gründung eines Nationalstaates. Sie wollten eine gemeinsame Nation. Und die war aus ihrer Sicht – und auch aus heutiger Perspektive gesehen – nur unter liberalen Vorzeichen möglich.

Wollten sie auch die Kirche verändern?

Lang: Ja, die liberalen Katholiken hatten nicht nur ein nationalpolitisches Programm, das sie in Konfrontation mit der Kirche brachte, die sich ihrerseits stärker nach Rom ausrichtete. Sie hatten auch ein kirchenreformerisches Programm. Das war für sie ebenso wichtig. Darum fühlten sie sich nach ihrem Sieg, also nach dem Gelingen des Bundesstaats, nie als volle Sieger. In der Kirche hatten sie ja verloren, da hatte sich die konservative, romtreue Richtung durchgesetzt.

Welche Kirchenreform strebten sie an?

Lang:  Sie wollten eine demokratische Kontrolle über die Kirche. Die Schweiz sollte zum Erzbistum werden. Der Erzbischof wäre als einziger von Rom abhängig gewesen. Die übrigen Bischöfe hätten keinen direkten Bezug zu Rom gehabt. Diese Idee stimmte natürlich auch mit der Idee eines Nationalstaats überein. Zudem wollten die Liberalen die Ausbildung der Priester durch den liberalen Staat kontrollieren lassen.

Fand der Kulturkampf überall in der Schweiz statt?

Lang: Er fand vor allem in den katholischen Gebieten, auch in der Urschweiz statt. Die Schwerpunkte aber lagen in den katholischen und konfessionell gemischten Kantonen, in denen der Liberalismus stark war: Solothurn, Luzern, Aargau, St. Gallen, Tessin. Aber auch in den Kantonen Zug oder Thurgau spielten freisinnige Katholiken eine wichtige Rolle. Der Gründer des damals radikalsten Kantons Baselland war der Birsecker Katholik Stephan Gutzwiller.

Rein protestantische Gebiete waren nicht involviert?

Lang: Es gab Auseinandersetzungen unter Protestanten in protestantischen Kantonen. Am dramatischsten wurde dies in Zürich, als die Liberalen 1838 mit David Friedrich Strauss einen aufgeklärten Theologen an die Universität beriefen. Er hatte in seinem Buch «Das Leben Jesu» die historische Korrektheit des Evangeliums relativiert. Das führte zu einem Volksaufstand unter Führung der konservativen Geistlichkeit, die im September 1839 zum Sturz der Regierung führte. Wie bedeutend dieser sogenannte Straussenputsch europäisch war, zeigt die Tatsache, dass unser Mundartwort «Putsch» zu einem europäischen Begriff wurde.

Auch in der Waadt und in Bern gab es Auseinandersetzungen unter Protestanten.

Speziell ist Genf. Dort stürzten die Freisinnigen das calvinistische Establishment mit Hilfe der katholischen Bevölkerung. Dies, weil die Freisinnigen die religiöse Gleichberechtigung forderten, was der katholischen Minderheit zu mehr Rechten verhalf.

Der Kulturkampf endete mit der Totalrevision der Bundesverfassung 1874, heisst es im Buch. Weshalb?

Lang: Die Schlüsselfrage der ersten Phase von 1830 bis 1848 lautete: Wie schafft man aus einem Land mit zwei starken Konfessionen eine Nation? Die Antwort der Liberalen war: Indem man einen Bundesstaat schafft, der selber keine Konfession hat. Das war für damalige Zeiten eine Revolution. Allerdings schreckten die meisten Freisinnigen davor zurück, den Staat nicht nur überkonfessionell, sondern auch noch überreligiös zu machen. Also die Juden zu integrieren.

Im Bundesstaat von 1848 konnte nur gleichberechtigter Bürger sein, wer einer der beiden Konfessionen angehörte. Diese halbherzige Lösung wurde für die Freisinnigen immer mehr zu Belastung. So wurde in den 1860er-Jahren die Frage der Niederlassungsfreiheit für Juden im Zusammenhang mit einem Handelsvertrag mit Frankreich, das nur Bürger kannte, zu einem Problem. Das veranlasste die Freisinnigen, die Staatszugehörigkeit von der Religionszugehörigkeit abzukoppeln. Durchgesetzt wurde dies in der Bundesverfassung von 1874. Damals wechselten auch die Zivilstandsregister vom Pfarrhaus ins Gemeindehaus. Und konfessionell unabhängige und kostenlose Schulen wurden geschaffen. Die Schweiz ist also erst seit 1874 ein säkularer Staat.

Hat der vergleichsweise grosse Einfluss der Laien auf die katholische Kirche seinen Ursprung in dieser Zeit?

Lang: Ich würde sogar sagen: Das schweizerisches Staatskirchentum hatte seinen Ursprung bereits im Spätmittelalter, unter anderem beim Pfaffenbrief von 1370. Darin wurde unter anderem festgehalten, dass die Geistlichen den Behörden ihres Territoriums unterstellt waren. Zudem wurde ihnen verboten, an entfernte Gerichte, also an fremde Richter, zu gelangen. Weil die Pfarrer insbesondere in der Innerschweiz enger in die lokalen Verhältnisse eingebunden waren, hatte die Reformation hier weniger Chancen als andernorts. Das schweizerische Staatskirchentum hat auch mit der vergleichsweise starken Mitsprache eines relativ grossen Teils der Männer zu tun. Und ab dem 19. Jahrhundert wurde es zu einer Kompensation für die fehlende Mitbestimmung in der Kirche selbst. Weltweit gibt es wohl kein demokratischeres Bistum als das Bistum Basel. Es gehört deshalb auch zu den unruhigsten in der Weltkirche.

Findet heute ein Kulturkampf statt?

Lang: Ein solcher ist in der Schweiz nicht mehr notwendig. Denn der Bundesstaat und die Kantone haben prinzipiell liberale Regeln. Nötig ist nun aber, dass in unserem säkularen Staat die noch nicht anerkannten Religionen anerkannt werden und diese auf die säkularen Grundsätze verpflichtet werden.

Können wir Lehren ziehen aus jener Zeit?

Lang: Der Islam von heute ist kaum vergleichbar mit dem katholischen Konservatismus von damals, denn er hat nicht dasselbe Gewicht in der Gesellschaft. Dennoch können wir eine Lehre aus dem 19. Jahrhundert ziehen: Die Freisinnigen hüteten sich damals, in der Auseinandersetzung mit der Kirche Glaubensfragen aufzuwerfen. Diese betrachteten sie als Sache der Kirche. Hingegen warfen sie machtpolitische Fragen auf. Nur bei der Zürcher Anstellung eines Theologen, der das Evangelium in Frage stellte, wurde diese Regel gebrochen – das führte prompt zum Sturz der freisinnigen Regierung.

Was heisst das für heute?

Lang: In der Auseinandersetzung mit dem Islam ist es falsch, den Koran in Frage zu stellen. Das ist Sache der Gläubigen. Ein Ziel der Liberalen im 19. Jahrhundert war es, Einfluss auf die Priesterausbildung zu gewinnen, um den Einfluss Roms zurückzudrängen. Heute geht es darum, den Einfluss von Riad und anderer fundamentalistischer Zentren zu bekämpfen, indem Imame in der Schweiz selber eine Aus- oder Weiterbildung bekommen.

Ein weitere Lehre aus der Vergangenheit: 1874 wurde in der Schweiz die geistliche Gerichtsbarkeit – etwa katholische Ehegerichte – verboten. Also dürfen wir auch keine Scharia-Gerichte zulassen – wie das etwa in Grossbritannien passiert ist.

Literaturhinweis: Josef Lang und Pirmin Meier: Kulturkampf. Die Schweiz des 19. Jahrhunderts im Spiegel von heute, Verlag Hier und Jetzt, 2016