Er betet zu Gott und tröstet die Menschen

In einer beispiellosen Geste ruft der Papst die Mächte des Himmels gegen die Pandemie an. Und hält einer Gesellschaft den Spiegel vor, die vom Wahn besessen war, alles im Griff zu haben.

 

Einsamer, eindringlicher hat Franziskus nie gesprochen. In einer ungewöhnlichen Geste betete das Kirchenoberhaupt am Freitag um das Ende der Corona-Pandemie und erteilte von den Stufen des Petersdoms herab den Segen «Urbi et orbi». Ein dreifaches Kreuzzeichen mit dem Allerheiligsten in den verregneten römischen Abendhimmel. Die geweihte Hostie in der Monstranz, dem kostbaren Schaugefäss, ist nach katholischer Lehre die Gegenwart von Jesus Christus. Stärkere Mittel hat kein Papst.

Der schwärzeste Tag in Italien

Einsam steigt der 83-Jährige die Stufen zur Basilika empor, einsam hört er ein Wort aus dem Evangelium, einsam richtet er seine Ansprache über den Petersplatz im Regen. An Festtagen sah der Papst hier Zehntausende vor sich. Jetzt ist wegen der Ausgangssperre die Anwesenheit von Gläubigen verboten. Über das nasse Pflaster staksen Möwen. Die Dämmerung bricht herein nach dem Tag, der für Italien der schwärzeste in der Corona-Krise war. 919 Tote zählte der Zivilschutz. Franziskus hat als Bibelwort einen Abschnitt aus dem Markusevangelium gewählt, den Sturm auf dem See, als die Jünger zu kentern fürchten, während Jesus im Boot schläft. Das Bild des Untergangs begleitet den Papst in diesen Tagen.

Sich am Herrn festklammern

Vor einer Woche erinnerte er in einem Interview an eine ähnliche Geschichte: Petrus, der über das Wasser Jesus entgegengehen will. Der Schrei des Ertrinkenden, die Angst der Verzweiflung. Und wie wichtig es ist, sich «am Herrn festklammern» zu können. Petrus, das ist in der katholischen Kirche der Vorgänger des Papstes. Die Corona-Krise hat Franziskus innerlich getroffen. «Finsternis hat sich auf unsere Plätze, Strassen und Städte gelegt», sagt er. Sie hat sich des Lebens bemächtigt und alles mit einer «ohrenbetäubenden Stille» erfüllt. Und dabei wurde klar, «dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos sind».

Zeichen der Verwundbarkeit

Der Papst weitet in seiner Deutung der Lage den Blick über die medizinischen Dramen hinaus. Die Pandemie zeigt für die Verwundbarkeit einer Gesellschaft, die in einem Machbarkeitswahn unentwegt nach vorne preschte. Eine Gesellschaft die im Glauben sei, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, ohne Rücksicht auf gerechte Chancen für andere oder auf die Ressourcen des Planeten. «Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden», sagte der Papst. «Jetzt, auf dem stürmischen Meer, bitten wir dich: ‹Wach auf, Herr!›» Armutsbekämpfung, Klimawandel, nationaler Egoismus: Das seien Themen, die im Diskurs der letzten Wochen verloren gingen. Franziskus hält sie der Welt vor wie einen Beichtspiegel.

Gekommen um zu stärken

Aber nicht um zu richten ist der Oberhirte gekommen, sondern um zu stärken. So würdigt er diejenigen, die sich für eine Überwindung der Krise einsetzen. Ausdrücklich nennt er Ärzte und Krankenschwestern, aber auch Supermarktangestellte, Reinigungspersonal, Betreuer, Transporteure, ehrenamtliche Helfer und Geistliche. Es seien viele, «die verstanden haben, dass niemand sich allein rettet». Besonders Eltern und Erzieher zeigten Kindern, «wie sie einer Krise begegnen und sie durchstehen können». Viele Menschen, so der Papst, übten sich in Geduld, verbreiteten Hoffnung und seien darum besorgt, keine Panik zu verbreiten, sondern Mitverantwortung zu fördern.

Dann betet Franziskus lange schweigend, zermürbend lang für die Sendeanstalten, die das Ereignis live übertragen. Zu den Seiten des Hauptportals ist das mittelalterliche Kruzifix aus der römischen Kirche San Marcello aufgestellt, das an die Ende der Pest 1522 erinnert, und die Marienikone «Salus populi Romani» aus der Basilika Santa Maria Maggiore. Viele Gläubige suchen die Bildnisse in persönlichen Nöten auf. Franziskus verweilt etliche Minuten davor. Und er betet vor dem Allerheiligsten. Ein kleiner Altar wurde eigens in der Vorhalle des Petersdoms errichtet. Was Franziskus im Zwiegespräch vor seinen Herrn trägt, lässt sich nur ahnen.

Die Erde mit dem Kostbarsten gesegnet

Unterdessen dunkelt es. Gut eine Stunde hat die ernste, stille Zeremonie gedauert, bis der Papst mit der Monstranz vor die Basilika tritt und den darin aufbewahrten Leib Christi, das Kostbarste, was die katholische Kirche besitzt, segnend über Stadt und Erdkreis erhebt. Dass der Ritus des «Urbi et orbi» in einer solchen Form stattfindet, kam in der Geschichte noch nicht vor. Mit dem feierlichen Segen verbunden ist ein Ablass, eine Tilgung der Sündenstrafen. Katholischen Gläubigen wird dieses Trostzeichen in der Sterbestunde gewährt. (cic)

 

«Das war die ganz grosse Oper»

«Urbi et Orbi» – die Bilder von Papst Franziskus auf dem Petersplatz gingen um die Welt. Ein Gespräch mit dem Medien- und Theatermann Mariano Tschuor* über die Macht von Bildern – und ihre Inszenierung.

Raphael Rauch (kath.ch): Übertreibt das ZDF, wenn es behauptet, die Papst-Bilder von Freitagabend könnten zu einer Ikone der Corona-Krise werden?

Mariano Tschuor: Ganz und gar nicht: Ich kann das zu 100 Prozent bestätigen. Das war die ganz grosse Oper.

Oper? 

Tschuor: Das war eine perfekte Inszenierung. Der Vatikan hat alle Register gezogen, um eine liturgische Form zu finden, die wir bislang so nicht kannten. Eine Liturgie lebt ja von der richtigen Inszenierung. Liturgie ist im besten Sinne Theater, eine Dramaturgie mit einem klaren Ablauf, mit Höhepunkt und Kadenz. Der Vatikan hat die Kunst der Liturgie in seiner DNA.

Hat Sie die Inszenierung überzeugt?

Tschuor: Ich war ergriffen. Wenn wir das Sakrale ganz profan anschauen, hat es dramaturgisch gestimmt. Die Uhrzeit war perfekt, am Übergang vom Tag in den Abend. Die Requisiten, das Personal. Der Papst geht allein über den menschenleeren Petersplatz. Wir sehen die Fassade des Petersdoms. Solche Bilder haben eine grosse Wirkung: Sie zeigen die Einsamkeit des Menschen inmitten der römischen Architektur, einer grossartigen Schöpfung.

Eine Inszenierung lebt von starken Sätzen.

Tschuor: Hast du uns verlassen, Gott? Dieser Schrei: Wo bist du? Franziskus schafft es, das für uns zu deuten: Dass es eigentlich wir sind, die in unserer Übertreibung, im Übermass, in unserer Schamlosigkeit alles ausnutzen. Ich denke an menschliche Beziehungen, an Schöpfung, an Raffgier. Immer wieder kam dieser Schrei nach Gott: Wo bist du? Verlass uns nicht! In dieser Eindringlichkeit habe ich das noch nie von einem Papst gehört.

Eine Inszenierung braucht Handlung, Rhythmus.

Tschuor: Oder Mut zur Stille. Mich hat die minutenlange Anbetung des Allerheiligsten beeindruckt und wie diese Stille ausgehalten wurde. Stille, einfach Stille. Von der Symbolik her ist das etwas vom Stärksten in einer sonst sehr lauten Welt. In der Stille liegt sehr viel Kraft. In der Stille kann Gottvertrauen wachsen, aber auch Verbundenheit mit den Mitmenschen.

Es gibt keine neutrale Inszenierung. Welche Akzente sind Ihnen aufgefallen?

Tschuor: Benedikt XVI. hätte ein barockes Schauspiel aufgeführt. Ihm war keine Stoffspitze zu viel, kein Gold zu wenig, keine Mitra hoch genug. Franziskus steht für Reduktion auf das Wesentliche: Die Anbetung des Allerheiligsten in der Monstranz.

Inszenierungen leben auch von Nebenfiguren…

Tschuor: Früher wäre der Zeremonienmeister in der violetten Soutane eines Monsignore gekommen, mit einem Chorhemd mit Spitzen vorne und hinten. Nun war er in der schlichten Soutane eines Priesters zu sehen. So verschwand er. Es gab eigentlich keine Nebenfiguren. Papst Franziskus kam alleine, ohne Diakone und Ministranten. In dieser optischen Schlichtheit liegt eine grosse Kraft.

Welche Wirkmacht hat so eine Inszenierung?

Tschuor: Es klingt altmodisch, wenn ich das sage, aber sie spendet Trost in einer trostlosen Zeit. Das spricht die Sinne an. Nichts ist sinnhafter als eine Liturgie. Bei der werden sogar hartgesottene Atheisten weich (lacht).

Atheisten erreicht die Kirche höchstens punktuell.

Tschuor: Die Menschen sehnen sich nach Worten der Zuversicht. Die Kirche hat etwas zu sagen, wenn sie nicht in einen Jargon der billigen Betroffenheit fällt. Oder wenn sie den Zeigefinger erhebt. Sie muss die Leute ernst nehmen und ihre Sorgen umwandeln in eine Kommunikation der Hoffnung. Dann hat die Kirche viel zu sagen: Die Frohe Botschaft Christi baut darauf auf, die Schwachen und Verdrängten zu trösten und mitzunehmen. Diesen Auftrag zu sehen und umzusetzen ist eine riesige Chance für die Kirche.

Wenn sie es nicht verbockt…

Tschuor: Naja, es gibt immer welche, die solche Situationen schamlos ausnutzen, indem sie fundamentalistischer werden als sie sonst sind. Andere stiften Verwirrung mit Desinformation. Aber die meisten in der Kirche machen es richtig gut. Papst Franziskus ist das beste Beispiel dafür.

* Mariano Tschuor war Theaterregisseur, Kadermann bei der SRG und ist Präsident der Medienkommission der Schweizer Bischofskonferenz.