Hunger nur auf Gott – Die Extrem-Fasterinnen des Mittelalters

«Ich verzichte momentan auf Süsses», erklärte mir kürzlich eine Kollegin als ich ihr von den feinen Champagner-Truffes anbot. «Weisst du», fuhr sie hastig fort, «ich versuche mich im Fasten.» Ich war baff. Meine Kollegin liebt Schoggi, ist weder religiös begabt noch hat sie eine Gewichtsreduktion nötig.

Offensichtlich spiegelte sich die Verwirrung ziemlich deutlich auf meinem Gesicht, denn sie versuchte sofort, ihre Motivation zu erklären. Diese bestehe darin, dass sie a) ihren «inneren Sauhund» überwinden wolle und b) in einer Wette mit einer Arbeitskollegin um – wen wundert’s – einen zwei Kilogramm schweren Schoggihasen… Also nix mit Busse tun, Weltverachtung oder einer imitatio Christi.

Fastend Busse tun

Ganz anders im Mittelalter, wo genau diese Aspekte für einige Frauen das zentrale Motiv für ihre radikalen Fastenpraktiken waren. Zwischen 1200 und 1500 sind mindestens 80 Fällen von Frauen belegt, die über aussergewöhnlich lange Zeiträume keine oder kaum Nahrung zu sich genommen haben. Das Phänomen der Anorexia mirabilis, der wundersamen Appetitlosigkeit, wurde damals als besonderes Zeichen der Tugend und der Verbindung mit Gott aufgefasst.

Auffallend ist, dass diese extreme Form des Fastens, die Anorexia mirabilis, fast nur von Frauen praktiziert wurde. Dies, obwohl auch Männer wie etwa Franziskus von Assisi sehr asketisch lebten. Mit der Körperpraktik des «Extrem-Fastens» drückten die Frauen auf ihre Weise die Nachfolge des gepeinigten Jesu oder eben der imitatio Christi aus. Sie lebten Jesu Passion nach, indem sie den eigenen Körper hungern liessen.

Popularität durch Essensverzicht

Viele der besagten Frauen gaben an, nur noch «geistiger» Nahrung zu bedürfen. Einigen reichte laut Berichten eine einzige Hostie pro Tag. Der Sieg des Geistes über den Körper und seiner Bedürfnisse hob sie deutlich von den anderen Frauen – und Männern – ab. Ausserdem befähigte diese Körperpraktik die Frauen letztlich auch zum Empfangen von Visionen. Dies machte sie bereits zu Lebzeiten populär und in manchen Fällen sogar zu lebenden «Heiligen», die vom «gemeinen Volk» um Rat und Segen angefleht wurden.

Von Klara von Assisi (1193/4–1253) ist überliefert, dass sie am Montag, Mittwoch und Freitag gar nicht und an den anderen Tag nur wenig Brot und Wasser gegessen habe. Ihr Mitschwestern sagten aus, Klara habe so wenig zu sich genommen, sie sei wohl von Engeln gespeist worden. Klara wollte mit diesem extremen Verzicht Busse tun und dem armen, nackten Christus nachfolgen. Ihre einzige Nahrung sollte das fleischgewordene Wort Gottes sein.

Losgelöst vom Körper, nur noch Geist

Das ist insofern bemerkenswert, als dass die Kirchenväter die Frauen jahrhundertelang als Repräsentantinnen des Körperlichen und des Ernährens inszenierten. Auf Nahrung zu verzichten, bedeutete folglich, dem weiblichen Rollenbild nicht länger zu entsprechen, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Die Mittelalterhistorikerin Caroline Walker Bynum interpretiert diese Praxis der Nahrungsverweigerung denn auch als kreativen Umgang mit den Ressourcen, die Frauen damals zu Verfügung standen. In einer Zeit, in der Hunger alltäglich war, wurde ein fortgesetzter und freiwilliger Verzicht auf feste Nahrung durchaus als Zeichen für Heiligkeit aufgefasst. Wer sonst konnte eine solche Qual aushalten?

Fasten als Mittel der Kontrolle

In diesem Sinne gab der bewusste Nahrungsverzicht den Frauen die Macht über ihre Körper zurück. Von Katharina von Siena (1347–1380) berichtete ihr Biograf Raimund von Capua, dass sie sich bereits als kleines Mädchen geisselte und fastete.

Als sie dann im Alter von 16 den Mann ihrer verstorbenen Schwester hätte heiraten sollen, begann sie aus Protest eine strikte Fastenzeit. Ausserdem schnitt sie sich die Haare ab, um noch unattraktiver zu sein.

Die Anorexia mirabilis kann insofern als ein Akt der Selbstermächtigung gelesen werden, weil die Frauen ihre Körper dadurch nicht nur der männlichen Deutungshoheit, sondern auch ihren Besitzansprüchen entzogen.

Kein Wunder gefiel diese Körperpraktik den Repräsentanten der Kirchenhierarchie nicht. Mit Fastenverboten versuchten sie, die Frauen von dieser Form der Nachfolge Christi abzubringen. Zumal die extremen Fastenkuren die Körper der Frauen derart auszehrten, dass sie früher oder später alle daran zugrunde gingen. So war Klara von Assisi den Berichten zu Folge die Hälfte ihres Lebens krank und bettlägerig, ein Zustand, der durch das Fasten kaum verbessert wurde.

Mit der Reformation nahm die Popularität dieser Form des leiblichen Nachvollziehens von Christi Armut, Leid und Schmerz zusehends ab. Erst im viktorianischen England kam es noch einmal zu einem Fasten-Hype bei Frauen wie man ihn nur aus dem Mittelalter kannte.

Viktorianisches Revival des Extrem-Fastens

Bei den sogenannten Fasting Girls handelte es sich meist um junge Frauen, die behaupteten, keine Nahrung zu sich nehmen zu müssen. Ihre besondere religiöse Begabung erlaube ihnen dieses Verhalten. Ärztliche Untersuchungen ergaben aber meist, dass es sich bei diesen jungen Frauen um Schwindlerinnen handelte oder, dass sie anderweitig erkrankt waren.

Die Skepsis gegenüber solchen Wundern war im 19. Jahrhundert um ein Vielfaches grösser als im Mittelalter. Dennoch stürzten sich die Medien bereits damals auf Geschichten über Fasting Girls. Die mediale Berichterstattung bescherte in der Folge so mancher Familie Geschenke und finanzielle Unterstützung. Viele Menschen wollten sich zudem segnen lassen von den aussergewöhnlichen Mädchen.

Die Aufmerksamkeit konnte allerdings die junge Sarah Jacobs (1857–1869) nicht vor dem Tod retten. Die zwölfjährige Waliserin starb an Auszehrung, nachdem sie ununterbrochen von vier Krankenschwestern beobachtete worden war. Ärzte hatten diese Überwachung verordnet, nachdem sie die Berichte über Sarahs zweijährige Nahrungsabstinenz gesehen hatten. Da die Eltern sich weigerten zuzugeben, dass Sarah nicht völlig abstinent gelebt hatte, verhungerte sie unter den Augen der Krankenschwestern und der Familie. Die Eltern wurden daraufhin der fahrlässigen Tötung verurteilt.

Das Phänomen der Fasting Girls wird übrigens auch im letztes Jahr erschienenen Film «The Wonder» (US/UK/IE 2022) von Sebastián Lelio verhandelt.

Die gefährlichen Konsequenzen

Aus heutiger Sicht lassen sich durchaus Verbindungen zwischen dem religiös motivierte Extrem-Fasten, der Anorexia mirabilis und der Anorexia nervosa (Magersucht) herstellen. Es gehe, so die Einschätzung von einigen Expertinnen und Experten, einerseits darum, Rollenbildern zu entsprechen oder sie zu sprengen, bewusst oder unbewusst. Andererseits halten sie fest, dass es bei diesen beiden radikalen Ernährungspraktiken letztlich auch um die Kontrolle über den eigenen Körper gehe. Die jeweiligen Motivationen zu Fasten würden sich zwar unterscheiden, aber das Ergebnis sei faktisch dasselbe: die totale Unterwerfung des Körpers unter den eigenen Willen, koste es, was es wolle. . . (kath.ch)