Josef Annen: Haas’ und Huonders Hypothek ist belastend

Was macht einen guten Regens aus?

Josef Annen*: Ein guter Regens ist eine authentische Person, steht mit beiden Füssen auf dem Boden, ist den Menschen nahe und schöpft aus der Quelle, die Christus ist.

Wer war Ihr Regens und inwiefern hat er Sie positiv beeinflusst?

Annen: Ich habe als Seminarist zwei hervorragende Regenten erleben dürfen: Alois Sustar war Moraltheologe und ermutigte mich, auf das Gewissen zu hören. Josef Pfammatter war Neutestamentler und förderte in mir eine Spiritualität, die biblisch verwurzelt ist.

Wie kam es, dass St. Luzi nach dem Konzil so fortschrittlich war? Männer und Frauen lebten und studierten zusammen – egal, ob sie Priester oder Pastoralassistentinnen wurden?

Annen: Ab dem Jahre 1972 gab es mehr und mehr Seminaristen, die sich nicht ordinieren liessen, aber als Pastoralassistenten tätig sein wollten. Das sogenannte integrierte Seminar, in dem angehende Priester und Pastoralassistenten – und etwas später auch Pastoralassistentinnen – wohnten, entstand wie von selbst. Bischof Vonderach hat diese neue Entwicklung anfänglich bejaht.

Warum hat Bischof Vonderach dieses Experiment gestoppt?

Annen: Auf Druck von Priestern aus der Diözese und von vatikanischen Instanzen hat er sich später davon wieder distanziert. Es war Bischof Wolfgang Haas, der das integrierte Seminar beendet und wieder das tridentinische Modell eingeführt hat.

Was haben Sie in St. Luzi vorgefunden, als Sie Regens wurden?

Annen: Ich bin im März 2000 zum Regens ernannt worden. Damals war offen, ob die Theologische Hochschule weitergeführt wird oder nicht. Der Entscheid zugunsten der Theologischen Hochschule fiel erst im Sommer 2000. Ich fand ein Priesterseminar mit sechs Seminaristen für das Bistum Chur vor, an der Hochschule waren 15 Studierende. Es war ein absoluter Tiefpunkt.

Was war Ihr besonderes Anliegen?

Annen: Ich sagte mir: «Es kann nur noch besser werden.» Mein erstes Anliegen war, die Beschlüsse der Ausbildungskommission, die ein neues Konzept für die gesamten Aus- und Weiterbildung im Bistum Chur erarbeitet hat, umzusetzen. Dazu gehörten unter anderem die Einführung eines Propädeutikums zur Berufsklärung, die Errichtung eines Mentorats und von Wohnmöglichkeiten für angehende Pastoralassistenten und -assistentinnen, die Neukonzeption des Pastoralkurses sowie die Begleitung der Studierenden an anderen Universitäten. Zentral war die menschliche, spirituelle und pastorale Förderung der Seminaristen und aller Bistumsstudierenden.

Auf welche Highlights als Regens sind Sie besonders stolz?

Annen: Die Neukonzeption wurde Schritt für Schritt Realität. Das war das eigentliche Highlight. Hinzu kam die Totalerneuerung sämtlicher Gebäude in Priesterseminar und Hochschule.

Welche Differenzen hatten Sie als Regens mit Bischof Vitus Huonder?

Annen: Bischof Vitus Huonder hat die Entwicklung im Priesterseminar und an der Theologischen Hochschule Chur innerlich nicht mitgetragen. Kaum war er im Amt, hat er mich nach Zürich wegbefördert.

Warum haben Sie das Regensamt abgegeben?

Annen: Ich habe das Regensamt nicht abgegeben. Ich musste gehen.

Als Sie Regens waren: Gab es damals schon Priesterweihen am Regens vorbei?

Annen: Priesterweihen am Regens vorbei gab es nicht. Aber es gab versteckte Priesteramtskandidaten. Sie studierten auf Wunsch des Bischofs anderswo. Der Bischof machte dem Regens darüber keine Mitteilung.

Wann und warum haben die Servi della sofferenza in St. Luzi an Einfluss gewonnen?

Annen: Ich lernte diese Bewegung erst als Regens kennen. Es war ein Priester aus der Missione cattolica italiana, der die Servi della sofferenza in St. Luzi förderte. Im Jahr 2000 hatte er ein Zimmer im Priesterseminar.

Priesteramtskandidaten haben sich wiederholt über Ex-Spiritual Andreas Ruf beklagt. Sie waren Teil der Bistumsleitung. Haben Sie ebenfalls von der massiven Kritik erfahren und konnten Sie etwas dagegen unternehmen?

Annen: Ich habe davon erfahren. Aber der Bischofsrat hatte zum Priesterseminar nichts zu sagen.

Der Dozent für Kirchenmusik, Mario Pinggera, sieht Noch-Regens Martin Rohrer sehr kritisch. Wie sehen Sie das?

Annen: Ich sehe es nicht anders. Martin Rohrer dürfte froh sein, die Aufgabe weitergeben zu können.

Sie haben im Dezember gesagt: «Heute stehen wir in St. Luzi und in der Begleitung aller Bistumsstudierenden wieder da, wo wir im Jahre 2000 gestanden sind: am Anfang.» Was ist jetzt zu tun?

Annen: Der neu ernannte Regens steht wieder vor einem Neubeginn. Bischof Joseph Bonnemain selbst «erachtet den jetzigen Zeitpunkt für günstig, um die Leitung des Priesterseminars St. Luzi neu zu konzipieren». Das tönt vielversprechend.

Manche beklagen sich über das Pastoraljahr: zu sehr Schema F, zu wenig Praxisrelevanz. Müsste man die Ausbildung nicht komplett neu konzipieren?

Annen: Das ist dringend nötig. Alte Konzepte führen nicht weiter. Die heutigen Herausforderungen sind anders als vor 20 Jahren. Nicht zuletzt die Erfahrungen mit spirituellem und sexuellem Missbrauch in unserer Kirche verlangen neue Wege.

Was erscheint Ihnen noch wichtig?

Annen: Das Wichtigste ist jetzt, dass wir Daniel Krieg in seiner Aufgabe als Regens den Rücken stärken. 

Für Papst Franziskus sind aufmüpfige Priester- und Ordenskandidaten lieber als Duckmäuser. Der Papst findet: Junge Menschen dürften niemals genormt werden. Hat der Papst Recht?

Annen: Am besten ist es, wenn wir uns nach dem Bild Jesu Christi formen. Dann gibt es keine Duckmäuser, keine Normchristen, wohl aber Menschen mit aufrechtem Gang.

Papst Franziskus sagt auch: Probleme dürften nicht kaschiert, sondern müssten angesprochen werden. Domherr Daniel Krieg wünscht sich auch eine Aufarbeitung der Wunden im Bistum Chur. Bringt Aufarbeitung etwas? Oder ist Gras drüber wachsen lassen besser?

Annen: Wunden schmerzen auch unter dem Gras. Die Aufarbeitung setzt die Bereitschaft aller Beteiligten voraus, aufeinander zu hören und nicht einfach die eigene Position durchzudrücken. Da haben wir in unserem Bistum noch viel zu tun.

Die Bischöfe Wolfgang Haas und Vitus Huonder haben viele Männer zu Priestern geweiht, die in ihrem Heimatbistum nicht zugelassen wurden. Haben die Bistümer Chur und Vaduz viele Hypotheken?

Annen: Ich kann mich nur zu Chur äussern. Die Hypothek ist belastend. Sie lässt sich nicht amortisieren wie eine Hypothek auf der Bank. Aber die Kirche ist ja auch keine Bank, sondern immer auch ein Ereignis des Heiligen Geistes. Er kann beugen, was verhärtet ist.

* Der Priester Josef Annen hat das Bistum Chur jahrzehntelang geprägt. Geboren wurde er 1945 in Küssnacht am Rigi. Nach dem Studium in Theologie und Philosophie in Chur und Tübingen erfolgte 1973 die Priesterweihe. Es folgte ein Promotionsstudium in Münster. Danach war er Vikar und Jugendseelsorger in Winterthur und Zürich, 1987–2000 Pfarrer in St. Peter und Paul in Winterthur und 2000–2009 Regens am Priesterseminar in Chur. Von 2009 bis 2020 war Josef Annen Generalvikar für Zürich und Glarus.