Kloster statt Pfarreialltag: Priester Sebastian Wetter braucht mehr Wüstentage

Es ist ein Sprung ins kalte Wasser. Anfang Februar 2018 wird Sebastian Wetter (35) Kaplan für die Seelsorgeeinheit Gaster im Bistum St. Gallen. Wetter ist für sechs Pfarreien in der Linthebene zuständig. Einen Pfarrer gibt es nicht – der Priestermangel fordert seinen Tribut. «Ich war von Anfang an in der Rolle des Pfarrers und wurde von den Leuten auch als solcher wahrgenommen», erzählt Sebastian Wetter in einen Sitzungszimmer der Seelsorgeeinheit Gaster in Schänis SG.

Der Priester hat im Pastoraljahr bereits eine praktische Einführung in die Arbeit als Seelsorger bekommen. Nun übernimmt Wetter Führungsverantwortung, was Kaplänen in früheren Zeiten erspart blieb.

Im November 2021 erweitert sich sein Pflichtenheft noch einmal: Er wird Pfarradministrator ad interim für die Seelsorgeeinheiten Gaster und Obersee und ist damit für fünf weitere Pfarreien verantwortlich. Die Karriere als Weltpriester ist lanciert.

Mit den Grosseltern zur Stoss-Wallfahrt

Sebastian Wetter ist in Gontenbad im Kanton Appenzell Innerrhoden aufgewachsen, als zweiter von vier Söhnen in einer Bauernfamilie. Die Religion hat ihren Platz im Leben der Familie Wetter wie auch im Leben der Bevölkerung der ländlich geprägten Region. «Bei uns gehört das religiöse Brauchtum ganz selbstverständlich zum Leben dazu. Aus diesem Grund war mein Glaube von Anfang an recht bodenständig», sagt der Appenzeller.

Als Kind begleitet Sebastian seine Grosseltern an der jährlichen Stoss-Wallfahrt, betet den Rosenkranz mit, was damals noch üblich ist während der mehrstündigen Wanderung. Mit der Wallfahrt gedenken die Innerrhoder der Schlacht am Stoss 1405 gegen ein österreichisches Heer.

Bereits in der fünften Primarschulklasse verspürt Sebastian den Wunsch, Priester zu werden. Wetter erinnert sich an einen Moment grosser Dankbarkeit gegenüber allem, was er von Gott geschenkt bekommen hatte: seine Familie, sein Leben. Der Elfjährige beschliesst, Priester zu werden. «Ein Priester war schon damals für mich jemand, der sein ganzes Leben Gott widmet.»

Die frühe Berufung zum Priester ist keine Eintagsfliege. Sie überlebt Pubertät, die Gymnasialzeit, die Rekrutenschule. Als Jugendlicher spricht Sebastian davon auch ganz offen. «Ab der Gymi-Zeit kannten mich alle als den, der Priester werden will. In der Matura-Zeitung schrieben die Kollegen solche Dinge wie: ‘Du bist dann mal mein Hochzeitspfarrer’», sagt Wetter mit einem Lachen. Frauen, eine Familie? Kein Thema für den jungen Mann. «Ich hatte nie eine Freundin.»

Vater mit Bibliothek in der Scheune

Auf das Gymnasium folgen zehneinhalb Jahre Studium, davon sechs in Rom an der Jesuiten-Hochschule Gregoriana. Die Basis dafür ist das grosse Interesse an Büchern. Das hat Sebastian Wetter von seinem Vater geerbt, der so viele Bücher besass, dass er den oberen Teil einer Scheune zur Bibliothek umbaute.

In Rom spezialisiert sich Wetter auf Kirchenrecht. Und weil sein Bischof ihn anfragt und ihm das Thema liegt, ist er auch bereit, in diesem Fach eine Doktorarbeit zu schreiben – in München. Für eine akademische Karriere habe er sich aber nie interessiert, sagt der Priester. «Für mich war immer klar: Ich will Priester werden, um in Pfarreien für die Menschen da zu sein.»

Sebastian Wetter ist motiviert, hat eine Top-Ausbildung und erste Erfahrungen in Seelsorge und Pfarreiarbeit – also alles, um Karriere als Weltpriester zu machen. Doch vielleicht will er das gar nicht. «Der Zölibat war nie das Problem in meinem Leben, sondern die Frage der Lebensform. Will ich Weltpriester sein oder im Kloster leben?» Diese Frage treibt ihn seit 13 Jahren um – und wurde drängender beim Übergang vom Priesterseminar in Rom zur Arbeit in der Pfarrei.

Im Collegium Germanicum, dem Priesterseminar der Jesuiten, sei er viel freier gewesen in der Lebensgestaltung und habe viel Zeit für sich gehabt, erzählt Wetter. Er hat dort sechs Jahre lang gelebt.

Der Mann sprüht vor Begeisterung, wenn er vom Germanicum spricht. Jetzt leidet er darunter, dass seine Gottesbeziehung in den letzten Jahren zu kurz gekommen sei. «Spiritualität ist ein Wachstumsprozess, der nie zu Ende ist und dem man Raum geben muss.» Im Pfarreialltag mit seinen vielen Terminen gelinge ihm genau das nicht.

Der Wüstentag

Wetter sagt, er wolle niemandem einen Vorwurf machen, am allerwenigsten dem Bistum St. Gallen. Wegen des Priestermangels müssten die priesterlichen Dienste einfach auf viel weniger Schultern verteilt werden. «Vielleicht hätte ich selber aber auch einfach mehr Disziplin gebraucht und mich stärker abgrenzen müssen», bemerkt er selbstkritisch.

Zu den Missionsbenediktinern

Künftig soll es im Leben des Priesters mehr Wüstentage geben: Sebastian Wetter verlässt in sieben Monaten die Seelsorgeeinheiten Gaster und Obersee. Er tritt in ein Kloster ein, um herauszufinden, ob er wirklich dazu berufen ist oder einfach lernen muss, sich besser abzugrenzen. Im Kloster schütze die Gemeinschaft durch die strukturierte Lebensform die Zeit und den Raum, ohne die spirituelles Wachstum nicht möglich sei, erklärt er.

Wetter zieht es zu den Missionsbenediktinern in Uznach SG. Abt Emmanuel Rutz ist bereits jetzt sein geistlicher Begleiter. Der junge Priester bleibt damit der Region Gaster-Obersee erhalten. Das dürfte manche Gläubige freuen.

Zum Beispiel Rosa Hofstetter. Die ältere Frau hat an diesem Vormittag den Werktagsgottesdienst in Kaltbrunn SG besucht, den Sebastian Wetter mit rund 20 Personen gefeiert hat. Sie schätze ihn sehr. Aber «leider» gehe er weg, sagt sie im zweiten Satz, um dann hinzuzufügen. «Aber immerhin bleibt er in der Nähe.»

Doktor des Kirchenrechts

Sebastian Wetter, 1986 in Appenzell geboren, studierte Theologie an der Universität Freiburg (Schweiz). Darauf folgten sechsjährige Studien der Theologie und Philosophie sowie des Kirchenrechts an der Päpstlichen Universität Gregoriana. Anschliessend promovierte Wetter in Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät in München. Seine Doktorarbeit trägt den Titel «Die Bistumskonkordate von Basel und St. Gallen. Ihre Entstehungs- und Wirkungsgeschichte in kanonistischer Perspektive». Zum Priester geweiht wurde Wetter 2012.

Am 1. Februar 2018 wurde er zum Kaplan für die Seelsorgeeinheit Gaster ernannt, am 16. November 2021 zum Pfarradministrator ad interim. für die Seelsorgeeinheiten Gaster und Obersee. Er wirkt zurzeit als Seelsorger in der Armee und schreibt Kolumnen für das «Appenzeller Magazin». Ende Januar 2023 verlässt Wetter die Pfarreiseelsorge und beginnt das Postulat in der Abtei St. Otmarsberg in Uznach SG.