Bischof Lovey zur Sterbehilfe-Abstimmung: «Sprechen wir über die Kraft des Lebens, die Palliativ-Medizin»

Am 27. November stimmen die Walliser und Walliserinnen über ein neues Gesetz ab, das alle Spitäler, Alters- und Pflegeheime verpflichtet, Suizidbeihilfe in ihren Räumlichkeiten zuzulassen. Das Gesetz will aber auch die Palliative Care fördern. Werden Sie ein Ja oder ein Nein in die Urne legen?

Jean-Marie Lovey*: Wie jeder Bürger werde ich nach meinem Gewissen abstimmen. Ich betrachte die Freiheit als ein Gut, das es zu verteidigen gilt! Darum geht es mir bei dieser Abstimmung.

Zurzeit gibt es im Wallis Heime, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern verbieten, im eigenen Zimmer per Suizidbeihilfe zu sterben. Menschen, die das wollen, müssen dazu ihr Zuhause verlassen. Finden Sie das zumutbar?

Lovey: Ist es akzeptabel, dass ein Bewohner, der auf einen Platz in einem Heim wartet, in das Bett einer Person kommt, die man am Vortag sterben liess? Welche Lebensperspektive lässt man dem neuen Bewohner? Man sollte es den Heimen überlassen, ob sie Sterbehilfeorganisationen zulassen wollen oder nicht. Man sollte sie nicht dazu zwingen. Assistierte Suizide sind so selten, dass es keinen Grund gibt, daraus ein allgemeines Gesetz zu machen.

Wollen Sie als Gegner des Gesetzes nicht einfach verhindern, dass Heimbewohnerinnen und -bewohner, die nicht mehr weiterleben wollen, ihrem Leben ein Ende setzen?

Lovey: Jeder Mensch hat die Freiheit, seinem Leben ein Ende zu setzen. Und diese Freiheit muss verteidigt werden. Seinem Leben ein Ende zu setzen oder dabei Hilfe zu suchen, ist eine Freiheit. Das neue Walliser Gesetz aber will daraus ein Recht auf Unterstützung beim Suizid machen. Das hat die Eidgenossenschaft verstanden, darum hat sie in diesem Bereich keine Gesetze erlassen.

Mit dem neuen Gesetz wird ja niemand gezwungen, den Weg des assistierten Suizids zu gehen. Warum wollen Sie in diesem Bereich den Heimbewohnerinnen oder Spitalpatienten keine Freiheit zugestehen?

Lovey: Ja, geben wir ihnen diese Freiheit, aber machen wir sie nicht zu einem Recht. Wenn ein Gesetz ein Recht gibt – hier auf assistierten Suizid –, kann es alle Mittel einsetzen, um dieses Recht dann auch durchzusetzen. Also auch Zwang gegenüber den Alters- und Pflegeheimen ausüben.

Warum erachten Sie denn die Freiheit der Institutionen, selber zu entscheiden, ob Sie Exit Zutritt gewähren oder nicht, für bedeutsamer als die Freiheit der Menschen, die in diesen Institutionen zuhause sind?

Lovey: Die Bewohnerinnen und Bewohner entscheiden frei, je nach ihren Überzeugungen, ob sie in diese oder jene Institution eintreten wollen. Sie haben die Freiheit dazu. Wir sollten aber auch an das Pflege-, Verwaltungs- und Hauspersonal denken, dem man Gewalt antut, indem man es entgegen seiner Berufsethik und auch gegen sein Gewissen dazu zwingt, den assistierten Suizid zu akzeptieren.

Das Gesetz verpflichtet zwar die Heime, Sterbehilfeorganisationen Zutritt zu gewähren. Gleichzeitig legt es aber fest: Das Personal, der Vertrauensarzt oder der behandelnde Arzt dürfen sich berufsmässig nicht an der Beihilfe zum Suizid beteiligen. Diese Menschen sind somit vor einem Gewissenskonflikt geschützt. Warum ist das für Sie ungenügend?

Lovey: Die Auswirkungen eines Suizids sind gut dokumentiert. Es zeigt sich, dass die aktive Hilfe beim Sterben nicht nur Auswirkungen auf die Angehörigen hat. Auch das Pflegepersonal, das sich gewissenhaft engagiert, sieht sein Berufsleben durch eine Handlung, die gegen eine Ethik der Pflege verstösst, gescheitert. Hilfe beim Sterben ist keine pflegerische Handlung.

Eine Pflegerin kann es aber auch als Scheitern empfinden, wenn ein Bewohner das Heim verlässt, um Suizid zu begehen.

Lovey: Ist der Tod nicht immer ein Misserfolg? Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Pflegerin den Suizid im Heim selber als Erfolg ansieht. Anders ausgedrückt: Wird durch den Suizid, ob mit oder ohne Beihilfe, nicht das Bestreben aller Lebenden, zu leben, grundlegend vereitelt? Alles tun, damit die Lebensqualität so lange wie möglich erhalten bleibt: An dieser ethischen Grundlage sollte sich das Handeln von Pflegerinnen und Pflegern orientieren.

Wie sollen die Institutionen reagieren, wenn mündige Bewohner oder Patientinnen per Suizid aus dem Leben scheiden wollen?

Lovey: Ist es die Aufgabe der Institutionen, der Gesellschaft, des Staates, des Gesetzes, dem Leben ein Ende zu setzen? Die Palliativ-Medizin kann bezeugen, wie der Wunsch nach Sterbehilfe verschwindet, wenn man darauf mit einer freundlichen Präsenz und einer menschlichen Begleitung antwortet.

In einer Ansprache bei der Versammlung des Seelsorgerates des Bistums Sitten kritisieren Sie, dass das Gesetz zwei Themen miteinander vermischt, was eine Entscheidung darüber erschwert. Sollte man aus Ihrer Sicht über zwei gesonderte Vorlagen abstimmen lassen?

Lovey: Es ist kein Einzelfall, dass ein Gesetz zwei Gegenstände enthält. Dies stellt oft eine Schwierigkeit dar. Hier entsteht die Schwierigkeit dadurch, dass die beiden Gegenstände widersprüchlich sind. Einerseits schlägt das Gesetz vor, Leben durch Palliativmedizin zu schützen, was in hohem Mass in den Bereich eines Gesundheitsgesetzes fällt. Gleichzeitig schlägt es vor, das Recht anzuerkennen, dieses Leben auszulöschen, statt es zu pflegen.

Schlagen Sie eine Aufteilung des Gesetzes vor, damit der Entscheid leichter fällt?

Lovey: Es ist nicht meine Aufgabe, den Wortlaut des Gesetzes zu formulieren. Der Gesetzgeber ist das Parlament. Und die Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben beschlossen, die beiden Vorlagen in ein einziges Gesetz zu packen. Wie viele andere bedauere ich das.

Haben Sie eine Idee, wie die Gesellschaft auf die schweizweit zunehmende Nachfrage nach assistiertem Suizid reagieren soll?

Lovey: Die Volksweisheit sagt: «Im Haus eines Gehängten soll man nicht über den Strick reden.» Sprechen wir also über die Kraft des Lebens, die Aktionen im Dienst des Lebens, die Entwicklung der Palliativmedizin und alles, was getan wird, um Menschen, die sich dem Ende ihres Lebens nähern, oder ihre Familien zu begleiten. Die vielen Fachleute und Freiwilligen, die sich grosszügig dafür einsetzen, das Leben zu fördern und es bis zum Ende zu begleiten, sollten besser anerkannt und geehrt werden.

Ihre Erwartung: Wie werden die Walliserinnen und Walliser am 27. November entscheiden?

Lovey: Die Entscheidung liegt bei den Walliser Bürgerinnen und Bürgern, die sich zu einem gesellschaftlich wichtigen Thema äussern müssen. Sie haben das Recht, ihre Überzeugungen in Bezug auf das Leben zu verteidigen. Diese Abstimmung gibt ihnen die Gelegenheit dazu.

* Jean-Marie Lovey (72) ist Bischof von Sitten. Das Interview wurde schriftlich geführt.