Editorial

Ist Religion vernünftig?

«Immanuel Kant hat die Philosophie vom Himmel auf den Boden unserer Erfahrung geholt», resümiert Frank Werner in der schmucken Sonderausgabe von «Zeit Geschichte» zum 300-Jahr-Jubiläum des Königsberger Philosophen. Im selben Heft wird auch die delikate Frage angegangen, ob Kant ein Christ war. An seinem Verhältnis zur Religion scheiden sich seit jeher die Geister. Für die einen war er der «Alleszermalmer», für die anderen ein verkappter Pietist. Kant argumentierte in verschiedenen Schriften über die Beziehung zwischen Vernunft und Religion. Ein zentrales Konzept in Kants religiösen Überlegungen ist die Idee des «moralischen Gesetzes». Er postulierte, dass die moralischen Gesetze, die unser Handeln leiten, von Gott kommen, auch wenn wir die Existenz Gottes nicht durch reinen Verstand beweisen können. Kant glaubte an die Existenz Gottes als eine «postulierte» Idee der praktischen Vernunft, die für die moralische Ordnung der Welt notwendig ist.

Andererseits betonte Kant die Autonomie der Moral und argumentierte, dass religiöse Lehren nicht notwendig sind, um moralisch zu handeln. Diese Position brachte ihm handfeste Probleme mit den preussischen Zensur­behörden ein. Er war der Ansicht, dass die Moralität eines Handelns nicht von äusseren religiösen Autoritäten abhängen sollte, sondern von der inneren Vernunft und dem moralischen Gesetz, das jeder vernünftige Mensch erkennen kann. Er unterscheidet zwischen zwei Religionstypen, der Vernunft- und der Offenbarungsreligion. Die Vernunftreligion braucht als Beweis ihrer Gültigkeit keine Absicherung durch eine Heilige Schrift, sondern allein die Vernunft. Das unterscheidet die Vernunftreligion von der Offenbarungsreligion. Diese – von Kant auch als «empirischer Glauben» bezeichnet – gründet im Gegensatz zur Vernunftreligion auf historischer Erfahrung. Gott offenbart sich in der Geschichte. Von allen Geschichtsreligionen ist für Kant das Christentum diejenige, die am ehesten auf die moralische Religion ausgerichtet ist; letztlich ist für ihn die christliche Religion mit der moralischen Religion identisch. Denn das Christentum gründet, laut Kant, im Gegensatz zu anderen Religionen nicht allein auf Gesetzen, sondern auf dem Prinzip der Moral, besitzt also einen moralischen Kern. Das klingt eigentlich nicht schlecht, aber stellt die christliche Theologie bis heute vor grosse Herausforderungen.

Mit vernünftigen Grüssen 

Reto Stampfli