Editorial

Frühlingsglück

Kürzlich habe ich in einer Psychologie-Zeitschrift gelesen, dass – laut einer aktuellen Studie einer deutschen Universität – ein durchschnittlicher Europäer über 20 000 Gegenstände sein Eigen nennen kann. Diese beträchtliche Zahl an persönlichem Eigentum schien mir prima vista übertrieben hoch angesetzt zu sein. Nach einigen Überlegungen und einem Blick durch unsere Wohnung, in die Schränke und in den Keller musste ich jedoch schon bald eingestehen: Wenn man den ganzen Besitz vom simplen Bleistift über die zwanzig Hemden bis hin zur Stereo-Anlage betrachtet, dann ist man mit 20 000 Einzelstücken voll im Schnitt.

Vielleicht geht es Ihnen ähnlich, liebe Leserinnen und Leser, manchmal wünscht man sich diese erdrückende Menge an nützlichen und weniger nützlichen Dingen ganz einfach zum Teufel. Man sehnt sich nach einem «Robinson-Crusoe-Haushalt», in dem jeder einzelne Gegenstand seine Funktion und einen unverwechsel­baren Standort hat. Nie werde ich vergessen, mit welchem Hochgefühl ich beim letzten Umzug vor ein paar Jahren eine ganze Schuttmulde mit einer halben Tonne Gerümpel gefüllt habe. Das befreiende Gefühl, wenn man sich von Dingen trennen kann, welche seit Jahren nutzlos herumgestanden oder in dunkeln Kammern gelagert worden sind. 

Doch warum klammern wir uns so intensiv an unseren übermässigen Besitz? Vielleicht weil wir bereits früh gelernt haben, immer mehr zu bekommen und zu behalten. In unserer Entwicklung erlernten wir vor allem Strategien, wie wir sowohl materielle als auch nichtmaterielle Dinge erwerben können, um das Leben zu einer Kette von erfolgreichen und glücklichen Ereignissen zu machen. Doch irgendeinmal wird das Ganze zu viel. Das Besitzen entwickelt sich zum Stress, denn wer viel hat, der kann auch viel verlieren. Oder mit einem anderen Bonmot auf den Punkt gebracht: «Was man nicht weggeben kann, besitzt man nicht. Es besitzt einen.» Darum wäre jetzt die passende Jahreszeit, denn ein richtiger Frühlingsputz ist von Nöten, eine unerschrockene Aktion, bei der die Fenster weit aufgerissen werden, der Besen entschlossen zum Einsatz kommt und man auch nicht davor zurückschreckt, seine übervollen Kammern mit persönlichem Besitztum zu entrümpeln.

 
Mit Frühlingsgrüssen

Reto Stampfli