Schwerpunkt

Religionsunterricht – quo vadis?

von Reto Stampfli

Der Religionsunterricht an den Kantonsschulen hat sich seit dem 19. Jahrhundert von einer rein ­konfessionellen Unterweisung zu einem weltoffenen und interreligiösen Fach entwickelt. Eine ­anstehende Revision der Maturitätsanerkennungsverordnung stellt das Erreichte jedoch erneut infrage. 

In einem Schweizer Schul-Katechismus aus den 1860er-Jahren findet sich die für heutige Ohren irritierende Frage: «Wann hat der uneinsichtige Sünder die unermesslichen Qualen der Hölle zu befürchten?» Ohne uns mit der Antwort abzumühen, zeigt dieses Beispiel eindrücklich auf, in welchem Tonfall der Unterricht im Fach Religion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vonstatten gegangen sein muss. Auswendiglernen und Repetieren stand im Vordergrund und in den Klassenzimmern fand wohl kaum ein kritischer Austausch statt. In dieser Epoche spielte das Fach Religion mit seinen konfessionell geprägten Inhalten eine zentrale Rolle im Lehrplan. Das wirkte sich auch auf den Lehrkörper aus: So stammten bei der Gründung der «Höheren Lehr- und Bildungsanstalt» in Solothurn zehn von zwölf Lehrpersonen aus der Geistlichkeit. Der schulische Alltag war von religiösen Inhalten und Ritualen geprägt. Erst der Kulturkampf, der auch vor den Schulzimmern nicht Halt machte, brachte auffällige Veränderungen und führte zusammen mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen zu einem vielseitigeren Fächerkanon.

Ökumene als erster Schritt
Der ehemalige Chefredaktor des «Kirchenblatts» und Bildungsfachmann Kuno Schmid schreibt in einem Artikel im «Wissenschaft­lich-­Religionspädagogischen Lexikon»: «Das he­rausragendste Kennzeichen der religionsbezogenen Bildung in der Schweiz dürfte in ihrer Mannigfaltigkeit liegen: Auf kleinem Raum findet man hier recht unterschiedliche Konzepte, die der hohen regionalen Autonomie, aber auch den unterschiedlichen konfessionellen Voraussetzungen geschuldet sind.» Dieses Phänomen gilt auch im Bereich der Mittelschulen: Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten vielerorts die Landeskirchen bei der Unterrichtsgestaltung und Wahl der Lehrpersonen ein Wörtchen mitzureden; heute liegt in den meisten Kantonen die Verantwortung für den Religionsunterricht ausschliesslich beim Staat. Diese Trennung von schulischem Religionsunterricht und gemeindlicher Katechese, wie sie bereits das Würzburger Synodendokument «Der Religionsunterricht in der Schule» (1974) beschreibt, zeigte seit Ende der Siebzigerjahre auch an den Kantonsschulen Wirkung. Der modernen Religionspädagogik wurden drei Begründungsstränge zugrunde gelegt: Als Erstes die kulturgeschichtliche Begründung, die sich auf die historische Überlieferung und den Einfluss der Religion auf die kulturelle Prägung bezog, zweitens die anthropologische und drittens die gesellschaftlich-ethische. Zum zweiten Punkt kann man im Synodendokument zum Zweck des Unterrichts lesen: «(…) weil die Schule dem jungen Menschen zur Selbstwerdung verhelfen soll und weil der Religionsunterricht durch sein Fragen nach dem Sinn-Grund dazu hilft, die eigne Rolle und Aufgabe in der Gemeinschaft und im Leben angemessen zu sehen und wahrzunehmen.» Damit wurde die nötige Grundlage für den ökumenischen Klassenunterricht geschaffen, bei dem die Kantonsschule Solothurn schweizweit eine Vorreiterrolle einnahm. Stufenübergreifend transformierte sich der Religionsunterricht im ganzen Land schrittweise von einem kirchlichen, kerygmatischen Unterricht zu einer konfessionsneutralen Religionskunde für die ganze Schulklasse. 

Pluralisierung der religiösen Landschaft
In den vergangenen Jahrzehnten hat die reli­giöse Vielfalt in der Schweiz weiter zugenommen, insbesondere durch Zuwanderung und Globalisierung. Dies führte zu einem Bedarf an einem Religionsunterricht, der die verschiedenen religiösen und areligiösen Traditionen angemessen berücksichtigt und respektiert. Auch die verschiedenen Reformen im Bildungssystem der Schweiz haben sich auf den Unterricht im Fach Religion ausgewirkt. Diese Reformen zielten darauf ab, den Unterricht moderner und inklusiver zu gestalten und ihn an die Bedürfnisse einer sich verändernden Gesellschaft anzupassen. So wird an einigen Gymnasien Religion als ­eigenständiges Fach unterrichtet, während an anderen Schulen religiöse Themen im Rahmen eines allgemeinen Ethik- oder Philosophie­unterrichts behandelt werden. Mit der Eingliederung in das MAR-Gymnasium Mitte der 1990er-Jahre ­erhielt das Fach Religion den Status eines sogenannten «Wahlpflichtfachs». Die Schülerinnen und Schüler ab der 2. Gymnasialklasse haben Pflicht und Wahlmöglichkeit, sich zwischen «Ethik» und «Religion» zu ­entscheiden. Aufgrund der schweizerischen Interpretation der Religionsfreiheit für die öffent­liche Schule (Art. 15 der Schweizer Bundesverfassung) besteht also auch die Möglichkeit, das Fach Religion abzuwählen. An den Solothurner Kantonsschulen wird im Maturjahr zusätzlich ein «Ergänzungsfach Religion» angeboten.  

Quo vadis?
Immer weniger Jugendliche sind religiös sozialisiert. Wie also muss Religionsunterricht heute aussehen und hat er immer noch seine Berechtigung im Fächerkanon einer Mittelschule? Konnten die Kirchen im 19. Jahrhundert als Monopolisten auftreten, bläst den Institutionen heute ein rauer Wind entgegen, der vielerorts bereits zu einem noch fataleren Säuseln der Gleichgültigkeit abgeflaut ist. Nicht wenige sprechen dem Fach Religion schlichtweg die Existenzberechtigung ab oder möchten es bis zur Unkenntlichkeit verwässern. Bei schlechter Grosswetterlage wird der Religionsunterricht schnell einmal zum «Dispensationsfach» degradiert oder verschwindet ganz aus dem Curriculum. So wurde in der Vernehmlassung zur Revision der Maturitätsanerkennungsverordnung im Jahr 2022 das Fach Religionslehre als Grundlagenfach der gymnasialen Bildung aufgeführt. In der nun beschlossenen Verordnung der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) und des Bundesrates wurde dieser Fachbereich jedoch wieder gestrichen. Es bleibt also beim bisherigen Status. Das bedeutet, dass es den kantonalen Umsetzungen überlassen wird, Religionslehre als Ergänzungsfach für die Maturitätsprüfung anzubieten und die fachliche Vorbereitung darauf festzulegen. Damit verschwindet die Idee eines «einheitlichen Bildungsraum Schweiz» für das Fach Religion von der Bildfläche; die Kantone bewegen sich weiter auf dem Weg ihrer spezifischen Traditionen.  

Ganzheitliche Bildung
Religiöses Wissen ist heute jedoch nicht nur notwendig, um die christlich geprägte Kultur zu verstehen, sondern in der globalisierten Welt auch die Religion der anderen. Das beinhaltet unentbehrliche Grundinformationen sowie das Wissen darum, wie man selbst, die eigene Familie und Gesellschaft religiös unterwegs ist. Im Religionsunterricht soll sichergestellt werden, dass alle Schülerinnen und Schüler – unabhängig von ihrer Glaubenshaltung – etwas lernen können. Er muss ohne jegliche Abweichung den didaktischen und pädagogischen Ansprüchen anderer Schulfächer entsprechen (nachvollziehbare, systematisch aufgebaute Inhalte, Erfahrungsbezug, angemessene Methoden, zeitgemässes Lernkonzept). Durch die Auseinandersetzung mit verschiedensten Religionen und Weltanschauungen sollen die Schülerinnen und Schüler nicht nur neues Wissen erwerben, sondern ebenso die eigene Dialogfähigkeit erweitern. Grundsätzlich hat das Fach Religionskunde den Auftrag, den Zugang zu religiösen Lehren und Begebenheiten zu vereinfachen, und leistet dadurch einen wichtigen und notwendigen Beitrag zu einer ganzheitlichen Bildung. Es ist also anzustreben, dass das Fach Religion, in seiner klärenden und stabilisierenden Funktion – geprägt durch die ökumenischen und interreligiösen Entwicklungen – in den kommenden Jahren nicht in der pädagogischen Bedeutungslosigkeit verschwindet.