Editorial

SAKRALE RÄUME

Vor der Kathedrale Santa Maria del Fiore in Florenz wiederholt sich jeden Sommer in hundertfacher Ausführung dieselbe Szene: Touristen werden beim Eingang von den Ordnern zurückgewiesen, weil sie entweder schulterfreie Blusen oder zu kurze Hosen tragen. So ist es vor einigen Jahren auch einem ehemaligen Arbeitskollegen von mir ergangen, der über diese Zurückweisung dermassen erzürnt war, dass sein ganzes Urlaubsvergnügen darunter litt. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, warum beim Betreten einer weltbekannten Sehenswürdigkeit so strenge Kleidervorschriften gelten sollen. Als ich ihm zu erklären versuchte, dass diese noch immer in erster Linie ein Gebetsort, also ein sakrales Gebäude sei, stiess ich bei ihm auf taube Ohren. Für ihn stellte das imposante Bauwerk aus dem 15. Jahrhundert nichts anderes dar als ein faszinierendes Museum, ein besonderes touristisches Ausflugsziel.

Die Besichtigung von Kirchen und Tempeln hat einen festen Platz im Ablauf vieler Urlaubsreisen. Dabei erweist sich der Tourismus keineswegs als ein Gegensatz zur Religion, sondern als ein Bereich, in dem Religion auf vielschichtige Weise gegenwärtig ist: vom Besuch sakraler Räume über die Teilnahme an Festen bis hin zu religiösen Gegenständen aus aller Welt, die als Souvenirs zu Hause einen Platz in der Vitrine finden. So kommt es vermutlich bei den meisten Zeitgenossen in den Ferien oder auf Reisen zu mehr interreligiösem Kontakt als im Alltag, das Unbekannte und Fremde wirkt plötzlich weit weniger bedrohlich. 

Unterwegs in fremden Ländern scheinen wir offener für andere Kulturen und Religionen zu sein als bei uns vor der eigenen Haustüre. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu beobachten, wie der weiter oben erwähnte Kollege reagieren würde, wenn er vor dem Betreten einer sehenswerten Moschee seine Schuhe ausziehen müsste. Würde er es da auch wagen, lautstark zu protestieren? Vermutlich eher nicht und unter Umständen würde ihm diese Vorschrift nicht als Schikane, sondern eher als positiv zu wertende, neue Erkenntnis in Erinnerung bleiben.

Mit freundlichen Grüssen                             

Reto Stampfli