Editorial

FRAU UNTER ALLEN FRAUEN

In der katholischen Kirche wird der Mai als «Marienmonat» gefeiert. Maria, eine Jüdin aus Palästina und Mutter Jesu, steht dabei im Mittelpunkt. In der Bibel spielt sie erstaunlicherweise lediglich eine Nebenrolle. Trotzdem ist sie die einzige weibliche Gestalt, die in den grossen religiösen Traditionen eine anhaltende Popularität erreicht hat. Sie wird nicht nur von Katholiken und Orthodoxen verehrt, sondern auch von Muslimen. Im Islam ist die Mutter Jesu die einzige Frau, die namentlich im Koran erwähnt wird. Auch Hindus haben grosse Achtung gegenüber Maria und verehren Marienstatuen, was man tagtäglich im Kloster Mariastein beobachten kann. Selbst Menschen, die keiner Religion angehören, bewundern die reiche Kunst, die zur Darstellung von Maria – mit einem Schwerpunkt im Barock – geschaffen worden ist. Theologisch steht Maria für das wahre Menschsein Jesu. 

Die überbordende Marienverehrung im Spätmittelalter – ausgelöst durch einen starken Wunder- und Aberglauben – führte in der Reformation zu einer bewussten Distanzierung. Die Reformatoren konzentrierten sich auf die biblischen Erzählungen über Maria und verehrten sie als Vorbild im Glauben. Sie waren davon überzeugt, dass die Marienverehrung den Glauben an Gott nicht verstellen dürfe. Radikale Kräfte, auch in der Schweiz, sorgten deshalb dafür, dass die Marienstatuen ganz beseitigt und alle Heiligenbilder aus den reformierten Gotteshäusern entfernt wurden. 

Obwohl für viele Gläubige, gerade in der jüngeren Generation, die Bedeutung Marias abzunehmen scheint, hat Maria weiterhin eine grosse Anziehungskraft. Menschen haben durch den Glauben an sie ihre Lebens­energie zurückgewonnen und eine besondere Verbundenheit mit Gott erfahren. Auf der anderen Seite sind traditionelle Marienvorstellungen durch patriarchale Idealvorstellungen verbogen. Heiligkeit und Körperlichkeit scheinen in der christlichen Tradition nicht zusammenzupassen: das hat markante Folgen für den Blick auf weibliche Sexualität, begründet in der katholischen Sexualmoral oder in der Rolle der Frau in der Kirche. Darum ist es wichtig, Marias Weiblichkeit sichtbar zu machen, ihre Freiheit und ihre lebensspendende Kraft und Menschlichkeit hervorzuheben. Maria ist nicht Frau über allen Frauen, sondern Frau unter allen Frauen. 

Mit besten Grüssen 

Reto Stampfli