Editorial

«Kontrastgesellschaft»

Es gibt Theologinnen und Theologen, die lassen einem ein ganzes Leben nicht mehr los. Ihre Schriften zeichnen sich durch eine erstaunliche, bisweilen irritierende Nachhaltigkeit aus. So war für mich die Lektüre von Gerhard Lohfinks «Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?» eine bis heute nachwirkende Erfahrung. Auf der Höhe der damaligen Bibelexegese, in moderner und gut verständlicher Sprache verfasst, beschrieb der Neutestamentler das Christentum als eine Kontrastgesellschaft, die durch eine radikale Alternative zu den vorherrschenden Strukturen und Werten geprägt ist. So können christliche Überzeugungen über Themen wie Abtreibung, Ehe, Sexualität und soziale Gerechtigkeit im Kontrast zu den Ansichten der breiteren Gesellschaft stehen. Lohfink war überzeugt, dass Jesus nicht nur eine religiöse oder spirituelle Bewegung gründete, sondern vielmehr eine neue soziale Realität schuf, die im augenfälligen Gegensatz zu den damaligen gesellschaftlichen Normen stand. Jesus lehrte und praktizierte Prinzipien wie Liebe, Barmherzigkeit, Vergebung und Gerechtigkeit, die im Widerspruch zu den herrschenden Machtdynamiken standen, was in den frühen Jahrhunderten des Christentums immer wieder zu Konflikten und Verfolgungen führte.

Doch ist das Christentum wirklich eine Kontrastgesellschaft? Der oft polemisch verwendete Begriff diente in seiner kirchen- und gesellschaftskritischen Stossrichtung als Grenzbeschreibung zu einem verbürgerlichten und stark auf sich selbst bezogenen Kirchenbild. Lohfinks Konzept der Kontrastgesellschaft betont die radikale Natur des Evangeliums und die Notwendigkeit für Christinnen und Christen, grundsätzlich eine transformative Kraft in der Gesellschaft zu sein. Es war wohl vor allem diese pointierte Gegenüberstellung von Kirche und Gesellschaft, auf die viele Theologen alarmiert reagierten. Sie befürchteten, dass mit Lohfinks Forderung einer Abschottung der Kirche Vorschub geleistet würde. Nicht wenige sahen in der Rede von der Kirche als Kontrastgesellschaft eine Abwertung der Volkskirche zugunsten eines sich elitär gebärdenden Christentums. Diese unterschiedlichen Positionen führten zu einer bisweilen emotional geführten Diskussion, die bestimmt auch nach Gerhard Lohfinks Tod am 2. April 2024 weitergeführt wird. 

Mit angeregten Grüssen 

Reto Stampfli