Nicola Ottiger: Ohne Ökumene ist Zukunft der Kirchen in Frage gestellt

Für viele erstaunlich war die ökumenische Relevanz der Krönungsfeier von König Charles III., die analog zu einer Bischofsweihe gestaltet wurde mit Salbung des Hauptes, Überreichung der Insignien und der Erteilung eines Segens. Der Segen als bedeutsames religiöses Zeichen wurde allen anwesenden Vertreterinnen und Vertreter der christlichen Konfessionen und auch der grossen Religionen erteilt.

Die Anglikanische Kirche vermochte Zeichen der Einheit unter den Menschen setzen und stand plötzlich ganz aktuell im Dienst des Zusammenhalts der Gesamtgesellschaft. Ökumene als Annäherung der Konfessionen und Vermittlung von Halt erschien brandaktuell.

Ebenfalls ökumenisch bedeutsam ist der seit 15 Monaten dauernde Einfall russischer Truppen in die orthodox geprägte Ukraine. Hier stellt sich die Frage nach dem kritischen Potenzial der orthodoxen Kirche angesichts so viel mörderischer Gewalttaten. Ökumene in der Schweiz – vollzogen in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (AKCK) – hört sich dagegen eher nachrangig an und der Eindruck wächst, die einstige Begeisterung in der Ökumene, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil befeuert wurde, sei einer regelrechten Ernüchterung gewichen und auf Sparflamme zurückversetzt worden.

Historische Rückblenden

Nicola Ottiger führte diese Beispiele aus, um die Aktualität der Ökumene heute zu betonen. Dies umso mehr, als der Ökumene-Auftrag heutigen Christseins biblisch verankert ist und auf die Worte Jesu, «dass alle eins sind» (Johannesevangelium 17,21) zurückgehe. («Ut unum sint» war auch der Wahlspruch des früheren Basler Bischofs und Liturgiewissenschaftlers Anton Hänggi (1917-1994)).

Nachdem die Kirche 1054 in eine Westkirche und eine Ostkirche auseinanderbrach, und aus der Reformation neue Konfessionen hervorgingen sowie vor 150 Jahren die christkatholische Konfession entstand, taten sich die christlichen Kirchen erstmals 1910 an der Weltmissionskonferenz von Edinburgh zusammen. Sie taten dies, um sich in den Missionsländern nicht weiter zu konkurrenzieren, sondern um gerade in Afrika bei der Evangelisierung sich ökumenisch abzustimmen und zusammenzuarbeiten.

Zweites Vatikanum

Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg wurde der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) mit Sitz in Genf gegründet (1948). Er zählt heute über 350 christliche Mitgliedskirchen, und die katholische Kirche überlegt sich anlässlich des Synodalen Prozesses ebenfalls eine feste Mitgliedschaft, die mehr als Kommissionsmitarbeit wäre.

Im Zweiten Vatikanischen Konzil begrüsste die römisch-katholische Kirche im Dekret «Unitatis redintegratio» (1964) die Bemühungen der Ökumene als Werk des Heiligen Geistes und löste damit eine zwischenkirchliche Annäherung aus. Kanzeltausch, gemeinsame Wortgottesfeiern und auch gemeinsam gestaltete Erwachsenenbildung wurden selbstverständlich.

1973 kam es zur offiziellen gegenseitigen Anerkennung der christlichen Taufe, und 1999 wurde in Augsburg die «Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre» von evangelischer und katholischer Seite unterzeichnet mit der Bedeutung, dass die gegenseitigen Verwerfungen aufgehoben seien und das Thema Rechtfertigung kein Anlass mehr für eine Trennung der Konfessionen sei.

Charta Ökumenica

Praktisch umgesetzt wurde die theologische Annäherung in der Charta Ökumenica (2001), die fortan eine gemeinsame Basis der Konfessionen für ökumenisches Handeln abgibt. Sie wurde erstellt und signiert von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE).

Dazwischen funkte leider das Römische Dokument «Dominus Jesus» (2000), welches den evangelischen Kirchen «das Kirche-Sein im eigentlichen Sinne» absprach. Trotzdem ist es Aufgabe der christlichen Kirchen in Europa, die verschiedenen Glaubensrichtungen zu vereinen, Gemeinschaft mit dem Judentum zu pflegen und den interreligiösen Dialog aufzunehmen.

Ökumene an der Basis wie auch von Kirchenleitungen fördern

Die Referentin lud die Zuhörenden ein, die bisherigen Errungenschaften in der Ökumene nicht preiszugeben, sondern vielmehr fortzusetzen und keinesfalls in frühere Anti-Stimmungen zurückzufallen. Es habe sich in den letzten sechzig Jahren durchaus ein positives interkonfessionelles Klima gebildet, das sich etwa in den Reformationsfeierlichkeiten 2017 in Zug positiv gezeigt hat.

Es gibt in vielen Gemeinden nicht nur am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag – eindrückliche Gottesdienste in ökumenischer Geschwisterlichkeit und mit grosser Teilnahme der Glaubenden. Gewiss bestünden weiter Fragen in Bezug auf die ökumenische Gastfreundschaft und die Stellung der Frauen in der Kirche, so Nicola Ottiger, aber gleichwohl sei ein durchaus selbstverständliches Zusammenleben entstanden.

Seit mehreren Jahrzehnten hat sich ein ökumenischer interkonfessioneller Religionsunterricht eingebürgert, und gemeinsame Feiern in den Schulen zu Beginn und am Ende des Schuljahres sind keine Seltenheit mehr, auch wenn diese durch die Corona-Pandemie  ins Stocken geraten sind. In der Spezialseelsorge (z.B. in Spitälern, in Gefängnissen) geschieht viel ökumenische Arbeit zum Wohl der Menschen.

Desiderata

Nicole Ottiger erwähnte als grosse Aufgaben für die Zukunft eine durchgängige ökumenische Bildung aller Schülerinnen und Schüler wie auch der Erwachsenen. Für die  Theoriebildung klagte sie die Entwicklung verschiedener Ökumene-Modelle ein, die sich alle deutlich von einem «Rückkehrmodell» zu unterscheiden hätten und heute mit Titeln wie «Einheit in Verschiedenheit» proklamiert werden.

* Stephan Leimgruber ist emeritierter Professor für Religionspädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Priester des Bistums Basel.